Lesebericht zu „Kolbe“ von Andreas Kollender

Kolbe-Alexander Kollender, Buch-und Medienblog, Oliver SteinhäuserWas war Fritz Kolbe für ein Mensch? Was trieb ihn im Kampf gegen ein gnadenloses und radikales Regime an? Wie wird aus einem einfachen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes ein abgeklärter Spion, der sukzessive Angst gegen Mut, und Zweifel gegen Kühnheit tauscht, um seinem Ziel – dem Ende des Zweiten Weltkriegs – näher zu kommen? Und wie kann es sein, dass diesen tollkühnen Fritz Kolbe niemand von uns kennt?

Fritz Kolbe, der nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im September 1939, von seiner Position im Deutschen Konsulat in Kapstadt nach Deutschland beordert wird, ist fassungslos. Aus Sicherheitsgründen lässt er seine Tochter in Südafrika zurück, denn er ahnt, dass das Naziregime in Berlin nichts Gutes für sein Leben bedeuten kann. Bereits auf der langen Überfahrt spürt er das sich konzentrierende radikale Auftreten der Nazis, die es kaum erwarten können für ihren Führer in einen eisernen Kampf aufzubrechen. Auf seinem neuen Posten im Auswertigen Amt in Berlin, quält ihn das Wissen über das Unrecht, das vielen Menschen widerfährt, und das er täglich in den geheimen Akten liest. Er fasst den Entschluss, das brisante Material aus dem Amt zu schmuggeln und es auf seinen Dienstreisen nach Bern den Amerikanern zuzuspielen.

„Kolbe“ ist in zwei Perspektiven gegliedert. Es wechseln sich die Geschehnisse während des Krieges mit den Erinnerungen Fritz Kolbes, wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ab. Grund dieser Szenenwechsel ist, dass Kolbe mehrfach versucht hat, seine eigene Geschichte niederzuschreiben. Da er allerdings nicht mit den Regeln des Schreibens vertraut ist, verzettelt er sich wieder und wieder. Aus diesem Grund veranlasst sein schweizer Freund Eugen Sacher den Besuch eines Journalisten und einer Fotografin. Gemeinsam ergründen sie Fritz´ Geschichte, hören ihm zu, fragen ihn aus. Zunehmend wird aus den journalistischen Notizen und dem Gespräch, die Geschichte um den vergessenen Spion aufgebaut. Typografisch kann der Leser stets zwischen diesen beiden Blickwinkeln unterscheiden. Die Geschichte Kolbes verläuft allerdings zunehmend zu einem aufregenden und dramatischen Gesamten.

Andreas Kollender gelingt es, beide Perspektiven mit einer enormen Authentizität zu beschreiben, sodass keinerlei Zweifel an seiner Geschichte aufkommen. Auch wenn der Leser bereits weiß, dass in diesem Buch Realität und Fiktion vereint werden, um ein spannendes Gesamtbild zu projizieren.
Kontinuierlich lernen wir mehr Details über Fritz Kolbe kennen und freuen uns, über – seine durch Selbstzweifel ausgelöste – authentische und bescheidene Menschlichkeit. Ein Charakter, der sich auch nach Kriegsende, beim Treffen mit den Journalisten, nicht verstellen muss.
Besonders gelungen sind die fließenden Übergänge zwischen den Gesprächen in Kolbes Unterschlupf und den Geschehnissen in Berlin und Bern während des Krieges. Es gleicht einer Kamerafahrt zwischen den Perspektiven und ermöglicht es dem Leser, seinen eigenen inneren Film aufzubauen.

Dieses Buch muss einfach gelesen werden!

Andreas Kollender
Kolbe
ISBN: 978-3-86532-489-4

 

Lesebericht zu „Lügenmädchen“ von Luana Lewis

http://www.randomhouse.de/Paperback/Luegenmaedchen-Psychothriller/Luana-Lewis/e461593.rhdEines winterlichen Abends klingelt es an Stellas Tür. Alle Straßen sind zugeschneit, und sie ist alleine in ihrem festungsähnlichen Haus. Durch die Überwachungskamera sieht sie, dass ein junges Mädchen, völlig unterkühlt, vor ihrer Haustür kauert. Widerstrebend öffnet die von der Außenwelt abgeschottete Stella schließlich die Tür und gewährt damit nicht nur dem sonderbaren Mädchen Einlass, sondern auch einer Vielzahl verdrängter und längst vergessenen Erinnerungen.
Der Psychothriller ist in mehrere Zeit- und Handlungsstränge gegliedert, und suggeriert damit bereits zu Beginn einen hohen Spannungsaufbau. Präsent sind in diesen Perspektivebenen die aktuellen Vorkommnisse in Stellas Haus, die sich an jenem Abend alleine zu Hause befindet, da ihr Mann – praktizierender Psychotherapeut – den Abend in seiner Praxis verbringt und die Nacht in seinem Stadtappartement verbringt. Ein weiterer Strang ergibt sich aus den in der Vergangenheit liegenden Ereignissen in der Grove Road Clinic, in der Stella bis zu ihrer psychischen Erkrankung selbst therapierte. Die dritte Erzählperspektive besteht aus den Therapiesitzungen eines jungen Mädchens und dessen Therapeut Max Fischer, Stellas Ehemann.

Luana Lewis wählt für ihren Plot eine vielversprechende Zusammenstellung, dessen Handlungen jedoch viel zu eindeutig und zäh zusammenfließen. Es ist nicht unüblich, dass gerade die ersten Seiten eines Psychothrillers, mit seinen zahlreichen Perspektivwechseln mühselig zu lesen sind, und dem Leser Ausdauer abverlangen. In „Lügenmädchen“ verpasst die Autorin jedoch den Übergang zur echten Spannung, da sie die Gewichtung der Erzählstränge falsch verteilt. Während die Spannung der Vorkommnisse auf Hilltop, in dem eingeschneiten Anwesen Stellas, nur rudimentär zu spüren ist, ziehen sich die Kapitel aus Stellas Vergangenheit unnötig in die Länge und ermatten. Dies hat zur Folge, dass beim Überspringen dieser Kapitel, der Zusammenhang trotzdem vorhanden bleibt, sie demnach hätten gekürzt oder ersetzt werden können. Fließendes Lesen ist durch diese Monotonie beinahe nicht möglich, ständig fühlt man sich gezwungen, das Buch zur Seite zu legen, um sich eine Durchschnaufpause zu gönnen.
Der Versuch, die Emotionen der verschiedenen Charaktere zu transportieren sowie Einblicke in die verletzten Psychen der Protagonisten Blue und Stella zu gewähren, ist in Luana Lewis nicht gelungen. Es sind jedoch gerade diese elementaren Bausteine, die zum Aufbau einer empathischen Leser-Protagonisten-Beziehung unabkömmlich sind.

Luana Lewis
Lügenmädchen
ISBN: 978-3-442-31384-6

 

Lesebericht zu „Etta und Otto und Russell und James“ von Emma Hooper

Emma Hooper, Buchblog, Oliver SteinhaeuserMit dem heute publizierten Buch „Etta und Otto und Russell und James“ erscheint ein emotionsgeladener Roman, dessen Thema das Vergessen ist. Feinfühlig beschreibt Emma Hooper die kriegsgeprägten Erinnerungen alter Freundschaften. Sie schafft eine Ausgewogenheit zwischen Traumatischem, Romantischem und Dramatischem, die es dem Leser ermöglicht, sich auf die Geschichte einzulassen. Ein Gleichgewicht, das ihn in temporäre Trauer, episodische Romantik und in sequenziellen Übermut versetzt. Und dabei kontinuierlich die Lebenserinnerungen dreier Protagonisten erzählt, die sich in einem Stadium aus Vergessen und Erinnern befinden. Gerade der Spagat zwischen Tragik und Wonne, sowie die Leichtigkeit Hoopers Worte, machen „Etta und Otto und Russell und James“ zu einem unvergesslichen Erlebnis einer noch existierenden Generation.

Die Handlung baut auf zwei Perspektiven auf. Vordergründig handelt das Buch von der Reise der 83-jährigen Etta, die in ihrem Leben wenigstens einmal das Meer gesehen haben möchte. Ergänzt wird ihre Reise mit der Lebensgeschichte Ettas, ihres Ehemannes Otto, und Russell, dem engsten Freund der beiden.
Ihr Mann Otto lässt sie ziehen – trotz aller Sorge. Er ist vor vielen Jahren selbst zu einer großen Reise aufgebrochen, um in einem fernen Land zu kämpfen. Ihr gemeinsamer Freund Russell hingegen will Etta zurückholen und verlässt zum ersten Mal in seinem Leben die heimische Farm. Auf ihrer Wanderung trifft Etta den Kojoten James, der sie durch das staubtrockene Land begleitet. Je näher Etta der Küste kommt, desto lebendiger werden die Erinnerungen der drei alten Freunde – Erinnerungen an die gemeinsame Jugend, an Zeiten des Krieges, an Hoffnungen und versteckte Gefühle, aber auch an Erfahrungen, die sie nicht miteinander geteilt haben.

Bereits zu Beginn des Buches fällt auf, dass auf die Anführungszeichen der wörtlichen Rede gänzlich verzichtet wird. Was zunächst für Verwirrung beim Lesen sorgt, ist ein Stilmittel, das nicht geschickter hätte gewählt werden können. Es erzeugt einen nahtlosen Übergang zwischen Gesprochenem und Gedachtem, betont den Fließtextcharakter und mindert Unterbrechungen im Erzählfluss. Ein typografisch-stilistischer Kniff, der den Inhalt der Geschichte – das Verschwimmen, Vergessen und Wiederfinden von Erinnerungen – konsequent nach außen transportiert.
„Etta und Otto und Russell und James“ lehrt uns diverse Erkenntnisse einer Kriegsgeneration, deren Werte sich bis heute nicht verändert haben, jedoch leider oft in Vergessenheit geraten sind. Der Roman hält uns vor Augen, was räumliche Distanz, für sich liebende Menschen, vor rund 65 Jahren bedeutete. Dass es ein wesentlich intensiveres Festhalten und Daran-Glauben bedeutete, als dass es in unserer durch Medien durchfluteten Generation der Fall ist.
Emma Hopper schreibt einen Roman, in dem es nicht immer geordnet zugeht. Die Gestaltung mancher Kapitel ist so gewählt, dass auf eine real existierende Handlung eine Illusion folgt, dass Ettas Gedanken plötzlich in die Ottos münden. Eine Verwirrung, die die Hilflosigkeit des Vergessens und der Einbildung widerspielgelt. Eine Verwirrung, die Zeit zur Entfachung eigener Gedanken schürt.

Und während James sich auf die Suche nach Etta macht, finden Otto und sie wieder zueinander. Vereint. Im Tod.

Emma Hooper
Etta und Otto und Russell und James
ISBN: 978-3-426-28108-6