Lesebericht zu „Fuchskind“ von Annette Wieners

Fuchskind, Ullstein, Annette Wieners, Buchblog, Oliver SteinhäuserDie Friedhofsgärtnerin Gesine Cordes entdeckt auf ihrem Friedhof ein ausgesetztes Baby. Von der Mutter fehlt jede Spur. Etwa zur gleichen Zeit wurde an der Bushaltestelle des Friedhofs eine junge Frauenleiche abgelegt. Ausgerechnet an dem Platz, an der Jahre zuvor eine junge Frau sich zur Prostitution anbot. Als schließlich der vermisste Friedhofswärter schwer verletzt aufgefunden wird, erwacht Gesines Ermittlertrieb erneut und sie muss hinter das Geheimnis des Findelkindes und der toten Frau kommen.

Als plötzlich ihr Ex-Mann Klaus auf dem Friedhof auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse schneller, als Gesine lieb ist. Denn mit ihm verbindet sie nur noch die Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn und das schmerzliche Auseinanderdriften einer bis zu diesem Schicksalstag liebevoll funktionierenden Ehe.
Der Leser erlebt die Protagonistin Gesine Cordes, wie er sie aus dem Vorgängerband „Kaninchenherz“ kennen gelernt hat. An ihr nagen nach wie vor Schuldgefühle und sie scheint in einer kontinuierlichen inneren Zerrissenheit zu schweben. Diese manifestieren sich besonders durch den Drang aus eigener Kraft und Anstrengung an sämtlichen Plätzen des Geschehens mitzuwirken. Dabei stellt Gesine natürlich wieder eigene Ermittlungen an und gerät so selbst sehr nah an die Machenschaften des illegalen Menschenhandels heran. Dieser ist auch das Kernthema des Buches. Annette Wieners konstruiert ihre Story um eine Frau, deren sehnlichster Wunsch die Fürsorge um ein Kind ist. Doch dazu braucht sie eine Freundin, deren sozial-gesellschaftlicher Status – im Gegensatz zu ihrem eigenen – das aus dem Ausland illegal besorgte Waisenkind zulässt. Die Vereinbarung der beiden Frauen hätte beinahe funktioniert, wäre da nicht die Unverfrorenheit und Selbstsüchtigkeit der Dame, die das Kind nach nur wenigen Tagen einfach aussetzt: Gleich einer Produktbestellung soll die „Ware“ einwandfrei und funktionstüchtig sein! Da passt es ihr gar nicht, dass das Baby unter dem Down-Syndrom leidet.

Die Geschichte hinter „Fuchskind“ ist eine wohl bekannte: Kinder aus armen und zerrütteten Verhältnissen werden illegal ins Ausland vermittelt. Zum Glück sollen diese keinen illegalen Handlungen zum Zweck sein, sondern kinderlose Menschen glücklich machen und gleichzeitig ein schützendes Zuhause erhalten. Illegal bleibt es allemal!
Annette Wieners schafft es diesmal nur sequenzweise, den Funken überspringen zu lassen. Obwohl das Buch einige markante und erinnerungsfähige Szenen beim Leser hinterlässt, wirkt der Plot eher schwerfällig und konstruiert. Das liegt auch daran, dass die im Vorgängerband „Kaninchenherz“ liebe- und mühevoll aufgebauten Charaktere diesmal nur latent-emotionale Darsteller sind und uns weniger in ihre Gefühlswelt eindringen lassen, als es in „Kaninchenherz“ der Fall war.

Annette Wieners
Fuchskind
ISBN-13 9783548612515

Lesebericht zu „Der letzte Zeitungsleser“ von Michael Angele

9783869711287Ganz selbstverständlich steht der presseaffine Mensch heut zu Tage, im 21. Jahrhundert, vor einem Zeitungsregal, vergleicht die vielseitig und aufwändig gestalteten Titelblätter der Tagespresse und entscheidet sich für das interessanteste, informativste und dem investigativen Journalismus zugeordnete Zeitungsprodukt. Dass der Weg bis dahin sehr beschwerlich war, vergessen dabei viele. Allerdings ist die moderne Gesellschaft lange aus der Wiege der Presseprodukte herausgewachsen. Das einzige Monopol, Informationen über weltliches Geschehen aus den Tageszeitungen zu erfahren, ist durch das Zeitalter des Internets lange vorüber. Schnell fragt man sich, welchen Mehrwert die gedruckte Zeitung noch bietet, wenn alle darin befindlichen Informationen auch durch kostenfreie Internetangebote zugänglich gemacht werden?

Michael Angele verfasst in „Der letzte Zeitungsleser“ nicht nur eine Hommage an die Tageszeitung, sondern an das gedruckte Wort im Allgemeinen. Doch er liebt weit mehr als den Inhalt. Es ist die Gesamterscheinung, die ihn und viele andere Zeitungsleser fesselt. Das Rascheln, der Geruch, die Haptik, ja und auch den Platz, den der Zeitungsleser bei seiner Lektüre unweigerlich in Anspruch nehmen muss. Und weil auch die Anmutung eines in Spalten gesetzten Textes ein Alleinstellungsmerkmal ist, enthalten die Seiten in „Der letzte Zeitungsleser“ die Optik eines Einspalters, umrahmt von viel Weißraum, der, wie ich es finde, wunderbaren Platz zu Randbemerkungen bietet. Hier kommt kein Gefühl von künstlicher Ausdehnung des Textes auf. „Der letzte Zeitungsleser“ braucht Platz für Gedanken, ist nicht nur Information, sondern Erinnerung, Anregung und Reflexion.

Randnotizen des Buch- und Medienblogs bei der Lektüre: "Gibt es Identifikation mit einer Tageszeitung? Öffentlicher Wertetransport"

Randnotizen des Buch- und Medienblogs bei der Lektüre: „Gibt es Identifikation mit einer Tageszeitung? Öffentlicher Wertetransport“

Angele zieht sich zur Beschreibung seines idealen Zeitungslesers den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard zu Rate, durchleuchtet seine Gewohnheiten, seine Sucht und Sehnsucht nach der Tageszeitung. Ihm gelingt dabei der Spagat zwischen dem Beschreiben des Faktischen und der gelebten Realität, des Unwirsch Seins, das uns im Leben eines Zeitungslesers immer wieder widerfährt.
Sein Werk dient dazu sich selbst zu verstehen, zu reflektieren. Wir erkennen uns darin wieder, sehen, dass nicht nur wir Zeitungsartikel sammeln, das Lesen solange aufschieben, bis an die Rezeption der Artikel beinahe nicht mehr zu denken ist, weil sich eine schiere Flut zusammengefunden hat. Ein unbezwingbares Massiv, das nur dann noch das Recht zur Aufbewahrung erfährt, wenn wir es zur Sammlung titulieren. Auch wenn es dadurch nicht rational wird, so wird es doch wenigstes verständlich.

Was also haben wir davon, die Tageszeitung zu lesen, wenn sich doch alle Informationen im Internet jederzeit in einer schier unermüdlichen Konjunktur befinden?
Es ist die von Journalisten und Redaktionen ausgewählte Zusammenstellung eben dieser, die durch ihre Gatekeeping-Funktion vorsortieren und uns die eigene Recherchezeit verkürzen. Vor allem aber tragen ausgewählte Themen mit Differenzierungsmöglichkeiten (z. B. „Pro & Contra“; „Meinung & Gegenmeinung“) dazu bei, eigene Gedanken anzustreben und nicht der Gefahr zu verfallen unreflektiert Meinungen anzunehmen und zu kopieren. Gerade diese meinungsbildenden Seiten einer Tageszeitung ermöglichen es einen Gesinnungs- & Sinneswandel anzuregen. Sie bieten dem Leser gewissermaßen die Grundlage zur eigenen Mündigkeit.
Diese Mündigkeit durchzieht die gesamten Milieus der Gesellschaft. Sie ist nicht an Lebensstil und Wertehaltung gekoppelt, denn für jedes Sinus-Milieu (hier die typischen Eigenschaften der Milieus) existieren meinungsbildende Tageszeitungen.


Wer mehr zum geschichtlich/historischen Entstehen und dem Verlauf der Tageszeitung lesen möchte, findet in meinem Aufsatz „Fortschritte des Nachrichtenwesens dargestellt an den Entwicklungsstufen Flugblatt und Zeitung“ weitere Informationen.images


Der letzte Zeitungsleser
Michael Angele
ISBN: 978-3-86971-128-7