Lesebericht zu „Das Eis“ von Laline Paull

Das Eis_Laline Paull_Blog_Oliver Steinhäuser_RezensionSean Cawson ist ein wirklich reicher Mann geworden. Zu verdanken hat er dies seiner größten Liebe: Die Arktis.
Die Besessenheit vom ewigen Eis, seiner Unberührtheit und die daraus resultierenden Möglichkeit großer Entdeckungen ziehen ihn seit dem Tag, an dem er sich seinen unbekannten Vater als Polarforscher vorstellt, an. Sean kommt aus der unteren Gesellschaftsschicht, schafft durch seine starke Willenskraft den Eintritt in die studentische Gesellschaft der verschollenen Polarforscher und lernt darüber den Investor und seinen späteren Mentor Joe Kingsmith kennen. Ihm verdankt er seine erste Reise in die Arktis.
Doch eins nach dem anderen. Zuerst sitzt Sean Cawson desorientiert, traumatisiert und  verzweifelt in der gerichtlichen Untersuchung zur Tragödie auf Spitzbergen in der Arktis, bei dem sein bester Freund Tom das Leben ließ und er selbst dem Tod nur knapp entkam.

Mit der Verbindung zum Geschäftsmann Joe Kingsmith begann für Sean die Erfüllung seiner Wünsche. Kingsmith ist es, der Sean die finanziellen Mittel zur Expedition in die unerforschte Arktis zur Verfügung stellt. Informationen zur Reise sind seine Gegenleistung. Sean wird zum Informant und Entdecker, liefert damit Wissen, das sein Mentor nutzt, um es durch Spekulation zu monetarisieren. Gelder fließen und sorgen auch bei Sean für den finanziellen Aufstieg. Und plötzlich steht für ihn ein historischer Moment an: Spitzbergen in der Arktis steht zum Verkauf. Und er weiß, dass er dieses Grundstück haben muss. Nicht nur aus Verliebtheit in die unglaubliche Natur, sondern weil er weiß, dass jeder andere Interessent dieses Land weniger naturbewusst nutzen wird als er. Aus diesem Grund holt er seinen Freund und Naturaktivist Tom Harding mit ins Boot und erhält zusammen mit ihm und einem Konsortium mit Joe Kingsmith und zwei weiteren den Zuschlag.

Der Tag, an dem das gesamte Investorenteam zum ersten Mal und gemeinsam ihr Land und das darauf errichtete Luxusresort Midgard Lodge besichtigten, kommt es zwischen den beiden Freunden Tom und Sean zu einem Konflikt. Tom entdeckt in der Lodge Umstände, denen er auf keinen Fall zustimmen kann. Doch bevor er dies kundtun kann, kommt es bei der Besichtigung einer Eishöhle zu einem tragischen Unfall, bei dem Tom sein Leben lässt.
Erst der Kalbungsprozess im Eis lässt große Eismassen ins Meer stürzen. Mit ihnen wird nach drei Jahren auch Toms Leichnam wieder freigegeben. Es kommt zu einer gerichtlichen Untersuchung, in der Sean Cawson allen Fragen Antwort stehen muss und der Verzweiflung nahe ist.

Laline Paulls Roman zieht den Leser in eine Welt voller skrupelloser Geschäftsmänner, Investoren und Politikern, die in der Arktis mehr als einen atemberaubenden Ort sehen. Nämlich den Profit, den Standortvorteil und weitere eigennützige Faktoren. Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit oder Umweltschutz sind diesen mächtigen Parteien egal. Was zählt sind illegale Waffengeschäfte, Korruption und Macht. Sean, der verzweifelte Protagonist, befindet sich irgendwo in einer Grauzone aus Naivität und zu später Erkenntnis. Paull versteht es, den Leser in ein beklemmendes, glaubwürdiges und aufgrund der fortschreitenden Klimaerwärmung nahendes Szenario zu versetzen. Es ist eine Welt, in der das Eis in der ressourcenreichen Arktis durch den Klimawandel zum Großteil geschmolzen ist. Dies eröffnet neue Transitrouten für den Schiffsverkehr und die Regierungen der Anrainerstaaten buhlen ebenso wie mächtige Wirtschaftsunternehmen um eine Positionierung, denn niemand lässt freiwillig einen Standortvorteil ungenutzt.

Laline Paull
Das Eis
ISBN: 978-3-608-50352-4

Lesebericht zu „Unter der Mitternachtssonne“ von Keigo Higashino

Yukiho Nishimoto, die sich später aufgrund einer Adoption im Buch Yukiho Karasawa nennt, Makoto Takamiya und sein Freund Kazunari Shinozuka, Tomohiko Sonomura oder Ryo Kirihara sind nur einige der Namen, die in „Unter der Mitternachtssonne“ eine wichtige Rolle spielen. Da erscheint der Name des Autors – Keigo Higashino – als reine Entspannung zwischen all den japanischen Namen. Doch trotz all dieser exotischen Namen schafft es der Autor auch diesmal wieder, komplexe Handlungen über mehrere Zeitebenen spannend zu erzählen.

Die Ereignisse dieses Romans ziehen sich über 19 Jahre hin. Macht man sich ertmal mit den vielen Erzählsträngen und den 19 relevantesten Personen vertraut, offenbart sich  Keigo Higashinos Thriller als ein Sammelsurium mehrerer Altersgruppen und Gesellschaftsschichten Japans in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er zeichnet das Bild einer ganzen Epoche.
Es ist die Epoche der massentauglichen Computerspielentwicklung – ohne den Schutz von Copyright – wie wir ihn heute kennen – und der dadurch einsetzenden firmenübergreifenden Piraterie und des Schwarzhandels von Quellcodes. Eine von bahnbrechenden digitalen Entwicklungen geprägte Zeit, die, aufgrund mangelnden Wissens in den zuständigen Unternehmen, von vielen Kriminellen zur eigenen Bereicherung schamlos ausgenutzt wurde.
So auch von Ryo, dem Sohn des ermordeten Pfandleihers Yosuke Kirihara. Verdächtigt wurden damals viele, einen Täter konnte die Polizei nicht liefern. Der Fall bleibt ungeklärt und der Leser begleitet das Leben des damals 12-jährigen Ryo Kirihara, der auf den insgesamt 720 Seiten schließlich 31 Jahr alt wird.

Zunehmend rückt der ungeklärte Mord an dem Pfandleiher in den Hintergrund und andere kriminelle Akteure, Weggefährten und Detektive betreten die Bühne. Unter ihnen entwickelt auch die hübsche Yukiho, Tochter der damaligen Hauptverdächtigen, einen profitablen Geschäftssinn und eröffnet eine Boutique nach der anderen.
Obwohl der Mord bereits verjährt ist, beschäftigt sich der damalige Mordermittler Sasagaki selbst in seinem Ruhestand noch mit diesem Fall. Vor allem die abgebrühte und unberechenbare Yukiho lässt ihm keine Ruhe, vermutet er doch in ihr den Schlüssel, der ihm helfen könnte, endlich die Wahrheit aufzudecken. Erst ein plötzlich verschwundener Detektiv, der auf sie und Ryo angesetzt war, bringt den alten Ermittler allmählich auf eine verheißungsvolle Spur.
So wie Higashino seine Leser immer wieder an bekannte Stellen und Details aus der Vorgeschichte führt, fügt sich auch für den pensionierten Ermittler langsam ein Puzzleteil an das andere.

Für Sasagaki bleibt die hübsche und gewiefte Yukiho der Dreh- und Wendepunkt der Geschichte. Der Blick hinter ihre mystisch düstere Aura bleibt ihm und dem Leser jedoch konstant verwehrt.
Erst als die Witwe des vor 19 Jahren ermordeten Pfandleihers ihr Schweigen bricht, kommt der Ermittler wieder auf eine heiße Spur und Sasagakis privaten Ermittlungen nehmen Fahrt auf, obwohl er weiß, dass sein Tun niemanden mehr rechtskräftig verurteilen kann.

Der letzte Akt ist eine Tragödie. Aber der Leser erfährt durch ihn doch endlich die Motive des damaligen Täters.

Keigo Higashino
Unter der Mitternachtssonne
ISBN: 978-3-608-50348-7

Buch- und Medienblog im Interview mit Klett-Cotta

In der vergangenen Woche hatte der Buch- und Medienblog Besuch von Klett-Cotta. Im Gespräch erläuterte Oliver Steinhäuser die Besonderheiten der vier Krimis/Thriller „Die Fährte des Wolfes“, „Sie werden dich finden“, „Es klingelte an der Tür“ sowie „Helvetia 2.0“.

Ausführliche Buchbesprechungen zu den Titeln finden Sie hier:

Die Fährte des Wolfes

Sie werden dich finden

Es klingelte an der Tür

Helvetia 2.0

Aufgrund eines Wohnungsumzugs verabschiedet sich der Buch- und Medienblog vier Wochen lang in eine Umbaupause. Hier sieht am Ende aber alles aus wie immer!

Weiter geht es am 02. März  2018 mit einem Reisebericht aus Sizilien.

Lesebericht zu „Wer ist B. Traven?“

B_Traven_Torsten Seifert_Rezension_Buchblog_Oliver SteinhäuserOtto Feige, Ret Marut, Traven Torsvan und Hal Croves. All das sind Pseudonyme eines bis heute in Teilen nicht greifbaren deutschen Autors der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Seinen Wunsch nach Anonymität formulierte er selbst mit den Worten: „Wenn der Mensch in seinen Werken nicht zu erkennen ist, dann ist entweder der Mensch nichts wert oder seine Werke sind nichts wert.“

Torsten Seifert begibt sich in seinem Roman „Wer ist B. Traven“ auf die Suche nach Antworten und schickt seinen Protagonist, den Journalisten Leon Borenstein, auf die Reise nach Mexico. Dort soll er am Filmset zur Verfilmung von B. Travens „Der Schatz der Sierra Madre“ Informationen zur Identität Travens sammeln. Die Tarnung seiner Mission ist der erstmalige Auslandsaufenthalt des Schauspielers Humphrey Bogart, den Leon augenscheinlich journalistisch dokumentieren möchte. Doch anstatt sich unauffällig dem Vertreter B. Travens am Filmset zu nähern, verbringt Leon den Großteil seines Aufenthaltes in Mexico tatsächlich während etlicher Schachpartien mit dem Schauspieler Humphrey Bogart. Als er eines Morgens im Frühstückssaal des Hotels auf die hübsche Maria trifft, verliert der Journalist seinen Auftrag völlig aus den Augen.

Der Ehrgeiz, einem Phantom hinterherzujagen, erscheint Leon deutlich unspektakulärer, als sich mit der attraktiven und reizenden Maria durch den Tag treiben zu lassen. Er vernachlässigt den Auftrag seines Vorgesetzten, dem die Enttarnung B. Travens unter den Nägeln brennt. Er will, dass seine Zeitung durch die Demaskierung des Bestsellerautors Bekanntheit erringt. Doch Leon geht lieber privaten Vergnügungen nach. Als er nach einer aufregenden Nacht mit Maria erwacht, ist nicht nur sein Flirt, sondern auch all seine Rechercheunterlagen zu Traven verschwunden. Warum sabotiert Maria seine Suche?
Erst mit der Veröffentlichung des Kinofilms „Der Schatz der Sierra Madre“, keimt die Erinnerung an Leons Zeit in Mexiko wieder auf. Als ihm ein Brief von Maria zugestellt wird, kehrt er auf die Fährte B. Travens zurück. Denn auch ihr Interesse gilt Traven. Doch im Gegensatz zu den Traven-Anhängern, ist ihr Ziel die Wahrung seiner geheimen Identität.
Wie es der Zufall will, entsendet Leons Chef ihn für Recherchen nach Wien. Die Stadt, von der Maria in ihrem Brief behauptet, dass er dort weitere Informationen zu Traven fände. Die Stadt, die seine Euphorie nach B. Traven entfacht und dafür sorgt, dass erneut nach Mexico reist und sich an die Versen des persönlichen Vertreters von B. Traven heftet: Hal Croves. Dass Leon Borenstein und Hal Croves auf dieser Mexico Reise aufeinandertreffen und durch einen Unfall ins Gespräch kommen verrät der Buch- und Medienblog noch. Die Inhalte des Gesprächs während dieser offensichtlich ausweglosen Situation behalte ich aber für mich.

Wer ist B. Traven?
Torsten Seifert findet in seinem Roman einen Weg, der zielsicher auf eine Person hindeutet: Hal Croves, den Berater und Vertreter B. Travens. Er kennt alle Romandetails detailliert, delegiert die Anforderungen Travens so präzise wie kein anderer. Wer so viel über einen anderen Menschen und seine literarisch-künstlerische Welt weiß, macht sich verdächtig, eben dieser Mensch selbst zu sein.
Was aber macht Maria in Seiferts Roman? Warum verhindert sie die Enttarnung Travens durch das Verbreiten von Falschmeldungen über B. Traven?

Es ist die Sprunghaftigkeit Leon Borensteins, durch die der Roman so authentisch wird. Der junge Journalist kommt den Anweisungen seines Vorgesetzten anfangs nur zögerlich und leidenschaftslos nach; das weckt Empathie. Als er immer rasantere Details über Traven erfährt, erwacht Leons eigener Tatendrang und er bricht auf, um selbst das Geheimnis um den Bestsellerautor zu lüften. Mit einem Mal wird aus Aufdiktiertem Leidenschaft.

Torsten Seifert
Wer ist B. Traven?
ISBN: 978-3-608-50347-0

Rezension zu „Der Gott der Simpsons“ von Jeff Lenburg

der-gott-der-simpsons_buchblog_oliver-steinhaeuserGelb, frech und ungezogen. So kennen und definieren viele Fans die Simpsons, die Kultserie des Cartoonisten Matt Groening. Doch bevor die chaotische U.S.-Familie um Homer Simpson in die Fernsehgeschichte einging, mussten viele glückliche Zufälle eintreffen, wichtige Bekanntschaften geschlossen und Mitstreiter gefunden werden.

„Der Gott der Simpsons“ beschreibt autobiografisch den Bezug Matt Groenings zum Zeichnen und Texten, den er von seinem Vater in die Wiege gelegt bekommen hatte. Der junge Matt Groening fällt erstmals mit acht Jahren auf, als er an einem Schreibwettbewerb teilnimmt. Mit seiner abstrusen und verstörenden Geschichte fällt er auf und gewinnt den Wettbewerb. Bereits hier wird dem Leser der Charakter des Simpsons-Schöpfers deutlich: Ein Mensch abseits traditioneller Konventionen, der die Schule als einen repressiven Ort verachtet.

Erste Erfolge erringt Groening mit seinen „Life in Hell“-Strips im Wochenmagazin „Los Angeles Reader“. Sukzessive erfolgen weitere Publikationen der Strips in weiteren alternativen Wochenzeitungen und bieten ihm ein Forum zum Ausprobieren. Schon zu diesem Zeitpunkt dienen die bunten Bilder zur Verarbeitung seiner eigenen Gefühle, die er mit Hilfe der Bilder weniger schmerzvoll preisgeben kann.
Eines Tages schafft er den Sprung zum Fernsehen, denn seine „Life in Hell“-Comics sollen die „Ullman Show“ mit kurzen animierten Sketchen auflockern. Dazu soll er die Charaktere jedoch anpassen. In seinen Augen ein Unding. Kurzerhand schnappt er sich einen Stift und skizziert, was er als ungehobelte, hässliche und schlecht gekleidete Familie ansieht. Das ist die Geburtsstunde der Simpsons.

Jeff Lenburgs Biografie Matt Groenings erzählt dem Leser die epochal wichtigen Kreuzungen, Entscheidungen und Weichen Groenings auf seinem Weg zum Kultzeichner. Dabei legt Lenburg vor allem auf den Weg zum Erfolg viel Wert und setzt nicht erst beim Entstehen „Der Simpsons“ an. Das ermöglicht es, den Menschen hinter der genialen Idee zu verstehen, dessen Leben und Lebensstil sich mit einsetzendem Erfolg komplett wandelte.
Aus der Garage, die ihm einst als Cartoon-Werkstatt diente, ging es direkt in das eigene Büro. Inklusive Entscheidungsgewalt. Die Simpsons zeichnen Groenings unermüdliche Anpassungen jeder einzelnen Folge während ihrer Produktion aus. Nur so schaffte er eine Sitcom deren Humor und Sarkasmus sich auf verschiedene Ebenen miteinander verbinden. Ein Humor, der sich dem Alter des Konsumenten anzupassen scheint. Schaut man sich als Erwachsener die Folgen an, über die man sich in seiner eigenen Jugend erfreute, stellt man nun fest, dass sie noch viel mehr Botschaften enthalten und einen echten Tiefgang haben. „Alle mögen sie Slapstick, für die Pseudointellektuellen gibt es andere schöne Sachen, und die derben Späße gefallen wiederum meinen Kindern am besten“, sagt Groening selbst.

Jeff Lenburg
Der Gott der Simpsons
ISBN: 978-3-608-50227-5

Lesebericht zu “ In Shitgewittern“ von Jon Ronson

in-shitgewittern-jon-ronson-klett-cotta-blog-buch-oliver-steinhaeuserWie daneben müssen wir uns benehmen, welche Ungehörigkeit uns erlauben, um kollektiven Hass auf uns zu ziehen? Und welche Gründe sind es, dass manch einer wegen Kleinigkeiten regelrecht gelyncht wird, wohin gegen andere, deren Taten und Worte viel schwerer wiegen, ungeschoren und ungeachtet ihrer Wege gehen dürfen? Was vor einigen Jahren abgeschafft wurde erfährt eine Renaissance: Der Pranger. Mit erheblichen und verheerenden Ausmaßen: Die zeitliche Spanne der Demütigung. Während in der Vergangenheit Schläge und öffentlich zur Schau gestellte Herabwürdigung temporär vollzogen wurden, haben die Beweise im Internet auch lange nach einer Empörung noch Bestand.


Rufen Sie sich eines ihrer persönlichsten Eigenschaften vor Augen, eine Angewohnheit über deren Kenntnis nur Sie selbst verfügen. Erzählen Sie diese einer beliebigen Person mit der Bitte zur Veröffentlichung in sozialen Medien. Machen Sie nicht? Ist Ihnen peinlich? Zu privat?
Nun, so geht es wohl jedem von uns, da er sich vor einer Bloßstellung fürchtet.


Jon Ronson beginnt sein Sachbuch über die Möglichkeiten zur globalen Denunziation durch digital-soziale Medien. Anhand des Autors Jonah Lehrer, dem die Mehrfachverwendung eigener Zitate sowie die Erweiterung von Fremdzitaten durch seine Worte in seinen populärwissenschaftlichen Büchern zum Verhängnis wurde.
Ronson präsentiert dieses Beispiel sehr detailliert, und der Leser muss das über sich ergehen lassen. Nur so erfährt er mehr über die Entstehung und das kontinuierliche Hochkochen bis zum finalen Paukenschlag: Der Shitstorm, der sich brandschnell und netzartig ausbreitet. Immer tiefer tastet Ronson sich in die Demütigung im Internet vor und beschreibt dies an echten Fällen. Interessant dabei ist, dass die Fälle jeweils Aspekte aus „Täter-“ als auch „Opfersicht“ veranschaulichen. Er erzeugt ein Verständnis für den Shitstorm-Angriff gegen eine Person und reflektiert die Gedanken des Auslösers. Genau der denkt sich während des Veröffentlichens eines Postes in sozialen Medien in der Regel weniger, als spitzfindige Streithähne später darin hineininterpretieren. Doch genau so entsteht eine oft gefährliche Gruppendynamik, die, befördert durch die teilweise anonymisierte „Umgebung Internet“, in Massenhysterien auszuufern droht. Es entsteht Deindividuation, ein Phänomen, bei dem ein Individuum sich in einer Situation, in dem es sich in einer Gruppe befindet, weniger stark an gesellschaftliche Gepflogenheiten und Verhaltensmustern hält, als wenn es alleine in dieser Situation agieren würde. Hinzu kommt, dass der Fehltritt eines Einzelnen oft zur Projektionsfläche eines generellen gesellschaftlichen Problems/Kritik wird und sich der Unmut auf die Aussage/Fehltritt einer Einzelperson potenziert. Das Shitstorm-Opfer wird als Ventil eines generellen Problems missbraucht. Wird man sich darüber hinaus klar, dass die meisten der Menschen unserer Gesellschaft nicht als sonderbar bzw. angreifbar wahrgenommen werden möchten, schließen sich viele der öffentlichen Mehrheitsmeinung an. Dadurch fallen wir als Individuum nicht auf und entsprechen einer gewissen Norm. Um nicht angreifbar zu sein, reduzieren wir also unsere Individualität.

Ein unkritischer Post, Buch und Medienblog, Klett-Cotta, In Shitgewittern

Ein unkritischer Post von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse 2016!

Kommen wir zur Anfangsfrage zurück: Warum sorgen manche Beiträge für Aufsehen während andere einfach untergehen?
Scham wird mitunter davon beeinflusst, ob das Demütigungsopfer sie zulässt. Wer sich ihrer annimmt wird von ihr verfolgt und hart getroffen. Wer sie an sich abprallen lässt, sorgt sich weniger. Soweit die Theorie. Allerdings kann Scham nicht ein- und ausgeschaltet werden. Auch wenn man es schafft, sie in der Öffentlichkeit zu verdrängen, bedeutet das nicht, dass sie uns im Unterbewusstsein erspart bleibt. Sie ist sogar in der Lage unser Handeln und Verhalten zu beeinflussen, ohne dass wir von ihrem offensichtlichen Einwirken Notiz nehmen.
In unserer Gesellschaft kommt niemand gänzlich an ihr vorbei. Deshalb müssen wir unser voreiliges Kommentieren in sozialen Medien reflektieren und uns über die Auswirkung von bloßstellenden Worten Gedanken machen. Denn manch unüberlegter Post kann auch durch eine persönliche Nachricht kritisiert werden und beim Ersteller zum Nachdenken anregen. Nachdenken führt, im Gegensatz zum offensiven Beleidigen, nicht selten zur Einsicht, zumindest aber zu einer sachlicheren Kontroverse. Angriffe in der Regel nur zu Gegenangriffen und Barrikaden.


Wie sozial sind unsere vermeintlich sozialen Netzwerke? Dieser Frage geht auch Heiner Wittmann auf „Stuttgart-Fotos“ nach:
„Ronsons Geschichte erklärt den Mechanismus, wie die schweigende Mehrheit, die unsichtbare selbsternannte kollektive Intelligenz eine Stimme beansprucht“, schreibt Wittmann zu Ronsons Werk auf dem Klett-Cotta-Blog.


Jon Ronson
In Shitgewittern – Wie wir uns das Leben zur Hölle machen
ISBN: 978-3-608-50235-0

Lesebericht zu „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ von David Whitehouse

Buch, Reise, Bibliothek, Blog„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ ist ein Feuerwerk der Gefühle, die durch die Kuriosität seiner Protagonisten zu einer liebenswerten Lektüre wird, die man gar nicht weglegen möchte. Die Beziehung des Lesers zu Bobby Nusku entwickelt sich dabei zu einer geradezu brüderlichen Verbundenheit, von der man sich nur schweren Herzens nach 314 Seiten trennen kann.


Als ich vor zwei Wochen im Büro saß, hatte ich gerade einen Kriminalroman gelesen, in dem der Täter eine Bäckereiverkäuferin ausspäht, um deren zeitlichen Tagesablauf genau zu dokumentieren. Da er jeden Tag seine Backwaren bei dieser Frau kauft, kennt sie seine Vorlieben und übergibt ihm – noch bevor er bestellen kann – seine Ware. Meine Kollegin erzählt mir tags darauf leicht betrübt, dass die Verkäuferin der Bäckerei, in der sie jeden Morgen ihr Brötchen holt, nicht mehr da sei, und „Der Neue“ gar nicht weiß, was sie jeden Tag zum Frühstück essen möchte. Ich erzähle ihr daraufhin, dass im Leben immer genau das passiert, was in den Büchern steht, die man gerade liest. Das Phänomen nennt sich „Involvement“ – also die Einbezogenheit in das gerade Geschehende.


Lesen, Literatur, Blog, Oliver SteinhäuserUnd dann sitze ich auf dem Weg zum Büro im Zug und schlage eine neue Seite in „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ auf:
„ ‚In jedem Buch gibt es irgendeinen Hinweis auf dein eigenes Leben’, sagte sie. ‚Auf diese Weise sind die Geschichten alle miteinander verbunden. Du erweckst sie zum Leben, wenn du sie liest, und dann wirst du das, was darin passiert, auch erleben.’“
Meine anfängliche Skepsis an den Titel ist sofort verflogen, denn es schließt sich der Kreis. Die Geschichte, die in einem anderen Buch anfing, geht hier weiter, bestätigt meine Gedanken und zieht mich in ihren Bann!

Das Buch beginnt mit seinem Ende. Der Bücherbus steht an der Kante einer Klippe, umzingelt von Polizeiwagen. Inspektor Jimmy Samas ist besorgt, dass die Frau am Steuer die mobile Bibliothek, in der er außerdem zwei Kinder und ein entflohener Häftling vermutet, in den Abgrund steuern könnte. Um das entstandene Bild zu verstehen, entführt David Whitehouse uns in das Leben des jungen Bobby Nusku, einen Jungen, der unter dem Verlust seiner Mutter und seinem ausfallend und gleichgültigen Vater leidet und weiterhin schutzlos den Schikanen durch Mitschüler gegenüber steht. Als Bobby eines Tages auf die geistig behinderte Rose und deren Mutter Val Reed trifft, entsteht in ihm der Wunsch nach Zuwendung, Geborgenheit und Wertschätzung. Als plötzlich auch noch sein einziger Freund Sunny – nach mehrfachen schmerzvollen Versuchen sich in einen Cyborg umzuwandeln, um Bobby zu beschützen – wie vom Erdboden verschwindet, findet Bobby in Val und Rose eine Familie, wie er sie sich seither ersehnte.

Die Kernaussage des Werkes ist die Suche nach einer Familie, auch wenn diese nicht aus der biologischen Formation von „Vater, Mutter, Kind“ bestehen muss. Sie muss einfach nur die richtigen Gefühle in uns erwecken und dabei ergeben sich familienähnliche Konstrukte fernab derjenigen Zustände, in die manche Menschen hineingeboren wurden.

Während Val Reed Bobby immer wieder erzählt, dass kein Buch ein Anfang oder ein Ende habe, weil es nur eine kurze Sequenz einer Geschichte enthalte, die auch immer etwas von seinem Leser enthält, zeigt David Whitehouse jedem von uns, dass für jedes Problem, dem man gegenübersteht, in zahllosen letzten Buchkapiteln längst eine Lösung präsentiert wird. Gefühle wie Liebe, Verlust und der Tod, die über einen Menschen hereinbrechen können, sind in Büchern so oft überwunden worden, dass man ihnen nie wieder allein gegenüberstehen muss.

David Whitehouse
Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50148-3

Lesebericht zu „Blutfrost“ von Susanne Staun

Dieser Beitrag ist auch auf dem Verlagsblog von Klett-Cotta erschienen.Blutfrost_Susanne Staun_Klett-Cotta

„Blutfrost“ beginnt mit einem Mord, zu dem Dr. Maria Krause, Rechtsmedizinerin im dänischen Odense gerufen wird. Im Anschluss daran startet eine Rückblende, die die Entstehung des Mordes erzählt und den Leser auf eine spannende Reise in eine Welt voll Schmerz und der Sucht nach Aufmerksamkeit entführt.

Klappentext:
In regelmäßigen Abständen erhält Rechtsmedizinerin Maria Krause anonyme E-Mails aus Rexville in den USA. Darin wird eine Person, die Maria angeblich nahesteht, bezichtigt, ihre eigenen Kinder zu verletzen, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Die mysteriösen Nachrichten stammen von »E«. Krause versucht alles, um »E«s Identität aufzudecken. Als sie feststellt, dass ihr verhasster Zwillingsbruder gemeinsam mit seiner Frau Eva in den USA gelebt und mit ihr eine Tochter namens Emily hat, gerät ihre Psyche mal wieder vollkommen durcheinander. Mehr als einmal überschreitet die eigenwillige Rechtsmedizinerin moralische Grenzen, wohl wissend, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegt …

Die Geschichte beginnt mit einem Mord: “Auf dem dunklen Holzboden mitten im Zimmer lag die Dame des Hauses. Sie trug einen schicken Pyjama aus weißer Seide. Auch sie war von Pappe eingerahmt. Ein schwarz gepunkteter Messerschaft, eindeutig der eines Globalmessers, ragte mitten aus ihrem hochschwangeren Bauch hervor…”.
Der Fall gerät schnell außer Kontrolle und versetzt Dr. Krause zurück in ihre Vergangenheit, die aus Vernachlässigung und Vereinsamung bestand. Als die Protagonistin schließlich E-Mails von Emily aus Rexville bekommt, dem Ort, in dem sie ihre rechtsmedizinische Ausbildung absolviert hat, beginnt für sie ein Spiel gegen die Zeit.

Das Hauptaugenmerk in „Blutfrost“ liegt nicht etwa bei den genrespezifischen Klischees, wie Blutvergießen und Gemetzel, sondern überzeugt durch eine detailreiche Betrachtung psychologischer Ursachen des Münchhausen-by-Proxy-Syndroms (Wikipedia) und dessen Auswirkungen auf betroffene Kinder und deren Familien. Authentisch und lebensnah lässt Susanne Staun den Leser spüren, was für ein inneren Antrieb Mütter des Münchhausen-Stellvertretersydroms erbarmungslos verfolgen, und welche Ängste betroffene Kinder durchleben. Erschreckend ist, dass die Opfer nicht nur schmerzgeplagt, sondern durch die ständig anstehenden Arzttermine Schulbesuche versäumen, was letzten Endes dazu führen kann, ein Leben lang unmündig zu bleiben.

Zunehmend entsteht in den beiden geplagten Protagonisten Dr. Maria Krause und Emily eine gegenseitige Anziehung. Während Emily eine liebevolle Mutter sucht, wünscht sich Dr. Krause nichts mehr, als eine Tochter, der sie all ihre Liebe zutragen kann. Dabei ist es ihr vollkommen egal, dass ihre neue „Tochter“ Emily für mehr als einen Mord verantwortlich ist.

Mit „Blutfrost“ gelingt es Susanne Staun in einem Thriller ein Sachbuch zu verpacken, das seinen Reiz in seiner durchgeknallten Protagonistin Dr. Maria Krause findet.

Susanne Staun
Blutfrost
291 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-50214-5

Lesebericht zu „Die Bienen“ von Laline Paull

Dieser Beitrag wurde auch auf dem Verlagsblog von Klett-Cotta veröffentlicht!1221_SU_Paull_Bienen.indd

Ist „Die Bienen“ eine kritische Betrachtung unserer Gesellschaft, symbolisiert anhand des Lebens in einem Bienenstock?
Oder geht es in dem Buch doch nur um das Leben, das Überleben und das Miteinanderleben von den so in den Blütenhonig verliebten Insekten?

Klappentext:
Ihr Name ist Flora. Ihre Nummer 717. Sie ist ziemlich groß. Ihr Pelz ist struppig. Andere finden sie hässlich. Doch sie ist klug und mutig. Und sie kann sprechen! Flora 717 ist eine Biene. Laline Paull erzählt das ergreifende Abenteuer dieser außergewöhnlichen Biene in einer anderen und doch zutiefst vertrauten Welt.

“In der Zelle war es erdrückend eng und viel zu warm. Außerdem stank es. Ein stechender Schmerz war ihr in sämtliche Gelenke gefahren, so sehr hatte sie sich gegen die Wände gestemmt. Der Kopf wurde ihr auf die Brust gedrückt, und sie hatte Krämpfe in den Beinen, aber ihre Anstrengungen wurden belohnt – eine der Wände schien nachzugeben. Mühsam drehte sie sich um und trat mit aller Kraft dagegen. Etwas knirschte und brach. Sie zerrte daran, bis sie ein schartiges Loch vor sich hatte, durch das frische Luft hereinströmte.” S. 9

Zu Beginn des Romans, als der Leser die Geburt von Flora 717 miterlebt und wie die Bienenpolizei die Neugeborenen inspiziert und missgebildete Bienen tötet und beseitigt, wird der Eindruck einer Gesellschaftskritik zunächst bestätigt.
Doch die allgegenwärtige Kampfansage des Lebens an seine Geschöpfe ist letzten Endes auch genau das, was das Leben in einem Bienenstock beschreibt. Das durch starre Hierarchien bestimmte Leben taktet jede noch so detaillierte Aufgabe und führt all jene zur Erlösung, die sich dem System widersetzen oder nicht in ihm funktionieren. „Sterbet ach mit Würde, Schwester“.
Der Gedanke einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gleichen rückt zunehmend in den Hintergrund, denn der Leser verschmilzt mit Flora 717, fühlt mit ihr, denkt mit ihr.
Wird zu ihr. Und lernt dabei das Leben aus der Sicht einer Biene zu sehen.

Die Autorin Laline Paull taucht den Rezipienten durch Flora 717, die über Fähigkeiten verfügt, die in der Regel weit über die einer Arbeiterbiene hinausgehen, in eine zwielichtige Fabel über Begabung, sozialen Aufstieg und den Umsturz repressiver Systeme.
Gerade diese Auseinandersetzungen modellieren den Titel darüber hinaus zu einem Abenteuerroman, der durch die starke und mutige Flora 717 kaum zu bremsen ist.

Und plötzlich sitze ich in dem Bienenhaus meines Großvaters: „Können Bienen wirklich tanzen?“, frage ich ihn. „Ja. Sie tanzen den Weg zur nächsten Futterkrippe, damit alle anderen Sammlerinnen dem Weg des Nektars folgen können.“
Duft frischer, von Honig durchtränkter Waben umgibt mich, steigt mir in die Nase, versetzt mich zurück in meine Jugend. Frech stibitze ich meinem Großvater ein paar Tropfen des süßen Goldes und sitze plötzlich wieder in der Stadtbahn.
Immer wieder entführen mich die Bienen in eine andere Welt. Der nächste Schwall des feinen Dufts von Honig wabert schon wieder durch die Bahn und ich vergesse auszusteigen.

Senastionell! Ich bin begeistert!

Laline Paull
Die Bienen
2. Aufl. 2014, 346 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Stanzung
ISBN: 978-3-608-50147-6