Rezension zu „Das Paket“ von Sebastian Fitzek

Morgen ist Heilig Abend. Achtet sehr genau darauf, wer euch ein Paket übergibt! Traut ihr euch sie alle zu öffnen?

das-paket, sebastian fitzek, buch, buchblog, blog, oliver steinhaeuser, medienblogWelchen Qualen stehst du gegenüber, wenn du als Therapeutin für Verhaltensauffälligkeiten und Wahrnehmungsstörungen plötzlich selbst zum Patient wirst? Schaffst du es deine Gedanken zu rationalisieren, weil du weißt, dass all das Geschehene nur in deiner Fantasie ablief? Oder kannst du trotz deines Fachwissen nicht mehr zwischen Realität und Imagination unterscheiden? Begib dich auf die Reise auf dem schmalen Grat der Wirklichkeit und des Wahns!

Nach dem Psychologenkongress und der Schreckensnacht im Hotel ist nichts mehr wie zuvor. Seitdem Emma Stein in ihrem Zimmer vergewaltigt und geschoren wurde, verbringt sie ihre Tage beinahe vollkommen isoliert zuhause. Ihr Nervenkostüm ist ein Wrack und sie sieht in jeder Situation und in jedem Geräusch eine potentielle Gefahr. Immer wieder führen Alltagssituationen zur Überreaktion und dem Verlust der Rationalität, in denen Emma Stein die Kontrolle über ihre Sinne verliert und ihre Wahnvorstellungen eskalieren.
Für Emma steht fest: sie ist Opfer Nr. 3 des „Friseurs“. Ein Serientäter, der Frauen die Haar schert und sie leidvoll tötet. Doch sie lebt. Was an ihr hat den Täter dazu veranlasst ihr nur Qualen zuzufügen, jedoch nicht nach dem Leben zu trachten?
Eine Frage, die auch ihren Mann, Fallanalytiker beim BKA, beschäftigt und auf die er und seine Kollegen keine Antwort finden. Da keine Beweise zum Stützen ihrer Geschichte vorliegen und Emma durch ihre Widersprüche zusätzliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit erzeugt, fällt es – selbst dem Leser – immer schwerer, ihr Glauben zu schenken. Ihr einziger geduldiger Zuhörer ist ihr langjähriger Freund und Anwalt Konrad.
Um ein vertrauensvolles Gespräch mit ihm kommt Emma bald nicht mehr herum. Denn nachdem sie in einer ihrer Wahnvorstellungen ihren Nachbarn tötet und im Anschluss auch ihren eigenen Ehemann in einem Tobsuchtsanfall umbringt, scheint dieses Gespräch die letzte Möglichkeit zur Behandlung Emmas psychischer Schäden zu sein.
Doch welche Wahrheit dieses zu Tage fördert lässt uns erschrocken und erstaunt zurück. Denn nichts ist, wie es scheint. Realität und Fiktion werden zu Komponenten, deren Gegensätzlichkeit einander anzuziehen vermag.

Sebastian Fitzek schafft mit „Das Paket“ eine Umgebung deren Surrealität sich aus den Seiten des Buches auf die Auffassungsgabe des Lesers ausweitet und ihn immer wieder an seinen eigenen Rückschlüssen zweifeln lässt. „Das Paket“ ist auch eine Grenzerfahrung an die eigene Glaubwürdigkeit und zeigt, welche erschreckende Eigendynamik auf dem Weg der Entwicklung zur Unglaubwürdigkeit eines Menschen entstehen kann.

Lesebericht zu “ In Shitgewittern“ von Jon Ronson

in-shitgewittern-jon-ronson-klett-cotta-blog-buch-oliver-steinhaeuserWie daneben müssen wir uns benehmen, welche Ungehörigkeit uns erlauben, um kollektiven Hass auf uns zu ziehen? Und welche Gründe sind es, dass manch einer wegen Kleinigkeiten regelrecht gelyncht wird, wohin gegen andere, deren Taten und Worte viel schwerer wiegen, ungeschoren und ungeachtet ihrer Wege gehen dürfen? Was vor einigen Jahren abgeschafft wurde erfährt eine Renaissance: Der Pranger. Mit erheblichen und verheerenden Ausmaßen: Die zeitliche Spanne der Demütigung. Während in der Vergangenheit Schläge und öffentlich zur Schau gestellte Herabwürdigung temporär vollzogen wurden, haben die Beweise im Internet auch lange nach einer Empörung noch Bestand.


Rufen Sie sich eines ihrer persönlichsten Eigenschaften vor Augen, eine Angewohnheit über deren Kenntnis nur Sie selbst verfügen. Erzählen Sie diese einer beliebigen Person mit der Bitte zur Veröffentlichung in sozialen Medien. Machen Sie nicht? Ist Ihnen peinlich? Zu privat?
Nun, so geht es wohl jedem von uns, da er sich vor einer Bloßstellung fürchtet.


Jon Ronson beginnt sein Sachbuch über die Möglichkeiten zur globalen Denunziation durch digital-soziale Medien. Anhand des Autors Jonah Lehrer, dem die Mehrfachverwendung eigener Zitate sowie die Erweiterung von Fremdzitaten durch seine Worte in seinen populärwissenschaftlichen Büchern zum Verhängnis wurde.
Ronson präsentiert dieses Beispiel sehr detailliert, und der Leser muss das über sich ergehen lassen. Nur so erfährt er mehr über die Entstehung und das kontinuierliche Hochkochen bis zum finalen Paukenschlag: Der Shitstorm, der sich brandschnell und netzartig ausbreitet. Immer tiefer tastet Ronson sich in die Demütigung im Internet vor und beschreibt dies an echten Fällen. Interessant dabei ist, dass die Fälle jeweils Aspekte aus „Täter-“ als auch „Opfersicht“ veranschaulichen. Er erzeugt ein Verständnis für den Shitstorm-Angriff gegen eine Person und reflektiert die Gedanken des Auslösers. Genau der denkt sich während des Veröffentlichens eines Postes in sozialen Medien in der Regel weniger, als spitzfindige Streithähne später darin hineininterpretieren. Doch genau so entsteht eine oft gefährliche Gruppendynamik, die, befördert durch die teilweise anonymisierte „Umgebung Internet“, in Massenhysterien auszuufern droht. Es entsteht Deindividuation, ein Phänomen, bei dem ein Individuum sich in einer Situation, in dem es sich in einer Gruppe befindet, weniger stark an gesellschaftliche Gepflogenheiten und Verhaltensmustern hält, als wenn es alleine in dieser Situation agieren würde. Hinzu kommt, dass der Fehltritt eines Einzelnen oft zur Projektionsfläche eines generellen gesellschaftlichen Problems/Kritik wird und sich der Unmut auf die Aussage/Fehltritt einer Einzelperson potenziert. Das Shitstorm-Opfer wird als Ventil eines generellen Problems missbraucht. Wird man sich darüber hinaus klar, dass die meisten der Menschen unserer Gesellschaft nicht als sonderbar bzw. angreifbar wahrgenommen werden möchten, schließen sich viele der öffentlichen Mehrheitsmeinung an. Dadurch fallen wir als Individuum nicht auf und entsprechen einer gewissen Norm. Um nicht angreifbar zu sein, reduzieren wir also unsere Individualität.

Ein unkritischer Post, Buch und Medienblog, Klett-Cotta, In Shitgewittern

Ein unkritischer Post von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse 2016!

Kommen wir zur Anfangsfrage zurück: Warum sorgen manche Beiträge für Aufsehen während andere einfach untergehen?
Scham wird mitunter davon beeinflusst, ob das Demütigungsopfer sie zulässt. Wer sich ihrer annimmt wird von ihr verfolgt und hart getroffen. Wer sie an sich abprallen lässt, sorgt sich weniger. Soweit die Theorie. Allerdings kann Scham nicht ein- und ausgeschaltet werden. Auch wenn man es schafft, sie in der Öffentlichkeit zu verdrängen, bedeutet das nicht, dass sie uns im Unterbewusstsein erspart bleibt. Sie ist sogar in der Lage unser Handeln und Verhalten zu beeinflussen, ohne dass wir von ihrem offensichtlichen Einwirken Notiz nehmen.
In unserer Gesellschaft kommt niemand gänzlich an ihr vorbei. Deshalb müssen wir unser voreiliges Kommentieren in sozialen Medien reflektieren und uns über die Auswirkung von bloßstellenden Worten Gedanken machen. Denn manch unüberlegter Post kann auch durch eine persönliche Nachricht kritisiert werden und beim Ersteller zum Nachdenken anregen. Nachdenken führt, im Gegensatz zum offensiven Beleidigen, nicht selten zur Einsicht, zumindest aber zu einer sachlicheren Kontroverse. Angriffe in der Regel nur zu Gegenangriffen und Barrikaden.


Wie sozial sind unsere vermeintlich sozialen Netzwerke? Dieser Frage geht auch Heiner Wittmann auf „Stuttgart-Fotos“ nach:
„Ronsons Geschichte erklärt den Mechanismus, wie die schweigende Mehrheit, die unsichtbare selbsternannte kollektive Intelligenz eine Stimme beansprucht“, schreibt Wittmann zu Ronsons Werk auf dem Klett-Cotta-Blog.


Jon Ronson
In Shitgewittern – Wie wir uns das Leben zur Hölle machen
ISBN: 978-3-608-50235-0