Sieben Jahre ist es her, dass ich vom Land in die Großstadt zog. Eine lange Zeit, in der der eigene Organismus anfängliche Schwierigkeiten überwunden und sich auf die neue Umgebung eingestellt hat:
veränderter Rhythmus; weniger Natur und andere Gerüche.
Deshalb stellt sich mir die Frage, ob der Organismus gar Dinge vergisst, mit denen er aufwuchs, die den Mensch seit den frühen Stunden prägen?
So komme ich mir jedenfalls vor, als ich mit der „Gebrauchsanweisung für den Wald“ zu Hause sitze und misstrauisch beäugt werde. „Ein paar Jahre in der Stadt, und schon braucht man eine Anleitung für den Wald?“, werde ich verständnislos gefragt. „Nein“, sage ich. „Aber es schadet nie, noch mehr zu wissen“, rede ich mich heraus. Ich fühle mich ertappt.
Doch wenn ich das Buch nicht selbst gelesen habe, werde ich nicht beurteilen können, ob mein urbaner Zerfall bereits so weit fortgeschritten ist, dass ich für ein natürliches Erlebnis eine Anleitung benötige. Deshalb sitze ich mit diesem Buch in der S-Bahn und lass mich hinaus ins Grüne treiben.
Ein kratziges Bett aus Tannenästen, taufeuchtes Moos als Waschlappen und Toilettenpapier (bitte nie andern herum), dazu Baumrinde und Käferlarven zum Frühstück. Was auf den ersten Blick rein gar nichts mit Kulinarik zu tun hat, verliert doch nie ganz seinen Reiz. Ob das mit unseren archaischen Instinkten zusammenhängt erläutert Peter Wohlleben seinen Lesern auf einem Ausflug durch den Wald.
Zentraler Punkt des Buches ist das Leben und Eingreifen des Menschen in den natürlichen Lebensraum Wald. Wohlleben beschreibt anschaulich, welche Auswirkungen beispielsweise Waldmaschinen auf das Ökosystem haben. Interessante Punkte, denn jeder ahnt, dass solch schweres Gerät dem Wald kein Segen bringen kann. Doch kaum jemand kennt die Gründe so gut, wie ein Förster.
Weiterhin wird der Eingriff in die natürliche Auslese des Tierreichs diskutiert. Füttert der Mensch im Winter so gerne Vögel mit Fettbällchen und Rehe mit Heu, greifen wir damit erheblich in die natürliche Selektion ein und verändern damit nicht nur die Population der Vögel und Rehe, sondern des gesamten Waldsystems. Im Anschluss an die Lektüre bekommt der Leser ein Gefühl dafür, was so lieb gemeinte Aktionen für Vögelchen und die süßen Rehe in Wahrheit bedeuten: Wir heben den tierischen Bestand über ein Niveau, das die Natur ernähren könnte. Tiere, die sonst im kalten Winter sterben würden, bleiben erhalten und beuten die Wälder im kommenden Frühling regelrecht aus. Aber auch dafür hat der Mensch eine Lösung: Aufforstung.
Man sieht schnell, dass ein Teufelskreis entsteht, der, ließe man die Natur auf ihre Weise wirken, gar nicht notwendig wäre.
Auch der Erhalt oder Aufbau von Artenvielfalt ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff in die Natur und hat überhaupt nichts mit Naturschutz zu tun. „Die größte Artenvielfalt auf kleinstem Raum finden Sie in einem Zoo. Diesen als Naturschutzgebiet zu bezeichnen fällt selbst den aktivsten Umweltschützern nicht ein, und dennoch machen wir genau dies in Nationalparks und Co.“ (S. 132)
Ich interpretiere Wohllebens „Gebrauchsanweisung für den Wald“ als eine Einladung sich dem Wald wieder anzunähern, ihn zu schätzen und ihm mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Das Buch ist keine Überlebensanleitung, die Auskunft darüber gibt, wie man im Wald lebt, wie man Hütten baut etc. Es ist vielmehr ein Anstoß, die Natur als „Tagesgast“ zu besuchen, sie zu beobachten oder Pilze und Beeren zu sammeln.
Das Buch ist mit interessanten Informationen gespickt, über die man sich vorher kaum Gedanken gemacht hat, oder sie niemals vermutet hätte.
Dazu gehören beispielsweise radioaktives Wildschweinfleisch oder der Vergleich zwischen Waldpfleger & Metzger. Ist erster im Ruf gutes für den Wald zu tun, käme wohl kaum jemand auf die Idee, einen Metzger als Tierpfleger zu bezeichnen. Doch im Vergleich beider Aufgabenfelder, bleibt am Ende kaum ein Unterschied.
Peter Wohlleben
Gebrauchsanweisung für den Wald
ISBN: 978-3-492-27684-9