Die verspielte und politisch-historisch verkümmerte Gesellschaft

Wie unsere Jugend durch Pokémon sozial-gesellschaftlich verarmt und das derzeitige Schulsystem G8/G9 den geistigen Abbau weiter fördert.

Smartphone-Spiele wie „Pokémon go“ sorgen für allgemeine Verwirrung bildungsnaher Gesellschaftsschichten und fördern  Überlegungen und Reflexionen über uns selbst zu Tage. Es ist schon verantwortungslos, wenn Spieler öffentliche Plätze und Straßen durch ihr Spiel in Beschlag nehmen und Mitmenschen gar in Gefahr bringen. Wenn die virtuelle Monsterjagd jedoch nicht einmal vor historischen Mahnmalen wie dem ehemaligen Konzentrationslager in Auschwitz Halt macht, müssen wir uns Gedanken machen, welche Gründe dafür verantwortlich sind, dass Teile unserer Gesellschaft unreflektiert und gedankenlos durch das Leben laufen.

Schnell könnte man an Sittenverfall und eine fortschreitende digitale Debilität denken. Diese Geschmacksverirrung der Gaming-Generation ist möglicherweise jedoch Vorbote viel verheerenderer Vorgänge auf epochaler Ebene: Wir erfahren derzeit eine einschneidende Verschiebung auf dem Gebiet des kulturellen Gedächtnisses. Fixpunkte kollektiver Erinnerungen unserer Gesellschaft fallen zunehmend dem Dunst des Vergessens anheim. Historische Ereignisse verweilen nicht mehr so lange wie früher im sozialen Gedächtnis. Während die Generation unserer Großeltern geschichtlich versiert ist, sinkt die Verweildauer der Geschichte auf 80 – 100 Jahre. books-485479_1920Fatal, wenn man bedenkt, dass aus dieser Zeitspanne der Aufbau des Erfahrungshorizontes eines Menschen entspringt und mit Hilfe dessen ein Individuum seine Lebenseinstellungen ableitet. Fatal deshalb, da es bedeutet, dass die folgenschweren Ereignisse des 20. Jahrhunderts im Moment dabei sind, aus dem Kollektivgedächtnis (vgl. hierzu das „Konzept des französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs à „kommunikatives- und kulturelles Gedächtnis; sowie http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/1895/1/Assmann_Kollektives_Gedaechtnis_1988.pdf) unserer Gesellschaft zu fallen. Hinzu kommt, dass die letzten Zeitzeugen ebenfalls verschwinden. Und mit ihnen die Unmittelbarkeit des Katastrophalen sowie die Notwendigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen. Anstelle der Übersetzung historischen Wissens in Diskurse politischer Willensbildung, interessieren sich junge Generationen immer öfter nur noch für das ungestörte, von Geschichte nicht beeinflusste Spiel mit ihren Smartphones.
Um die Gefahr dieser Trends noch besser zu verstehen, lohnt sich die Betrachtung der Schulpolitik, die seit ca. 15 Jahren mit Einführung des G8 ‑ die ihre Wissensvermittlung von traditionell neun auf acht Jahre verkürzt haben ‑ an dieser Entwicklung mit beteiligt ist. Wer in nur acht Jahren zum Abitur gelangen möchte, dem bleibt nicht nur ein ganzes Jahr Zeit erspart, sondern auch eine Menge Wissen und Allgemeinbildung. Effizienzideologischen Entscheidern ist es geschuldet, dass sich die Lernschwerpunkte nicht mehr auf die Inhalte konzentrieren, dem reinen Wissen also, sondern sich zum Aufbau von Kompetenzen verlagert haben. Diese baut man am wenigsten in Fächern wie Geschichte auf, das wie viele andere Fächer in seiner Wochenstundenzahl kurzerhand reduziert und inhaltlich ausgedünnt wurde. Vieles wird nur noch angeschnitten. Dem historischen Verfall wird dadurch weiter zugearbeitet. Auch Eltern stehen in der Schuld, da sie für ihre Kinder im Turboabitur weniger Inhalte fordern, um die Lernenden nicht zu überfordern. Das ist verständlich, jedoch leidet das Allgemeinwissen darunter. Viele Gymnasien stellen daher wieder auf neun Jahre um, schenken den Schülern wieder ein weiteres Jahr. Das reduziert Lernstress. Und das vor allem, da die eingedampften Inhalte nicht etwa wieder aufpoliert und erweitert werden, sondern lediglich langsamer unterrichtet werden. So schreibt es zumindest die Website des hessischen Kultusministerium: „Die Kerncurricula für den gymnasialen Bildungsgang gelten unabhängig von der zeitlichen Ausgestaltung der Sekundarstufe I, das heißt gleichermaßen für die fünfjährig organisierte (G8) und die sechsjährig organisierte Mittelstufe (G9).“ Das vorher aussortierte Wissen wird also nicht wieder aufgenommen. Am Ende bekommen Schüler wieder mehr Zeit, jedoch nicht mehr Wissen.

Für den Pokémon spielenden Einzelnen bedeutet dieser Trend, dass er auch eigene Gedanken anstreben müsste, sich selbst über seine Umgebung und Geschichte informieren sollte. Erste politische Folgen des Erinnerungsverlusts sind bereits beobachtbar. Sie manifestieren sich durch den Erfolg populistischer und geschichtsmissachtender Gruppierungen.
Am Ende helfen hoffentlich nicht nur an Gedenkstätten angebrachte Hinweistafeln, die das Fangen virtueller Monster an Plätzen einstiger realer Monster verbietet.


120px-achtung-svgNun könnte man die vorangegangenen Worte als realistisches und glaubwürdiges Abbild der Dinge sehen. Und so ist es auch – zumindest teilweise.
Doch es gibt weder das einzig Wahre, noch das absolut Falsche. Und so kommt es, dass man auch reflektierenden Jugendlichen begegnet, denen das Fangen giftverströmender Monster im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zuwider ist. Jugendliche, die in Foren über die Geschmacklosigkeit dieser Entwicklung diskutieren.

Es lohnt sich der Blick auf den Spielehersteller, der die sogenannten Hotspots einrichtet: Durch die gps-Daten, die die Jugendlichen über ihre Smartphones offenbaren, kann der Hersteller die von Spielern des Pokémon go stark frequentierten Orte identifizieren. Dabei geht auch der Hersteller nicht immer überlegt vor, und richtet an Orten Hotspots mit besonders interessanten Pokémon ein, an denen sich auffällig viele Menschen mit dem auf ihren Smartphones installierten mobilen Spiel aufhalten. Im oben genannten Fall auch das KZ Auschwitz, denn hier halten sich ‑ oft während Klassenausflügen ‑ besonders viele junge Menschen auf. Fraglich ist, ob ein Appell zum Pokémonverbot an solchen Orten reicht, oder ob der Hersteller nur durch Sanktionen gebremst werden kann.
Letzten Endes hat der Hersteller möglicherweise ganz andere Ziele vor Augen. Der Hype um das Spiel hat gezeigt, dass es in der Lage ist, ganze Menschenmassen beinahe blind zu mobilisieren. Ein Phänomen, das dem Hersteller mit Sicherheit nicht entgangen ist und das er als Basis für weitere monetäre Absichten missbrauchen kann. Zum Beispiel in schwach frequentierten Einkaufszentren. Das Geschäftsmodell sähe wie folgt aus: Shopping-Malls kaufen sich beim Spielehersteller seltene Pokémons ein und bekommen vom Hersteller einen Hot-Spot eingerichtet. Und schon werden aus uninteressanten Orten Publikumsmagnete. Im beschriebenen Fall handelt es sich lediglich um einen kommerziellen Kniff. Doch theoretisch kann jeder als Kunde beim Spielehersteller in Erscheinung treten. Welche Anziehungskraft stark frequentierte Orte auf extremistische Gewalttäter hatten, mussten wir in den letzten Monaten leider schmerzlich feststellen. Es lohnt sich also für jeden von uns, über Sinn und Unsinn neuer Trends nachzudenken, bevor man ihnen blind folgt.

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