Lesebericht zu „In Andrews Kopf“ von E. L. Doctorow

In Andrews Kopf_E.L. Doctorow_Buch-und Medienblog_Oliver Steinhaeuser„Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler. Es ist aber nicht schön.“
So startet E. L. Doctorow seinen letzten Roman „In Andrews Kopf“. Und er hat Recht. Es ist nicht schön, denn alles in Andrews Leben scheint normwidrigen Regeln zu folgen. Wir blicken in die Psyche eines Mannes, dessen Leben aus Unfällen, Verlusten und Trauer besteht. Ein Mensch, der in freudigen Momenten bereits vorahnen muss, dass die Glückseligkeit nicht ewig währt. Andrew erzählt seine Geschichte, offenbart sich seinem Therapeuten. Vertraut seinem Gegenüber seine innersten Gefühle an. Uns. Den Lesern. Seinen Therapeuten?

Nachdem sein erstes Kind durch einen nachlässigen Fehler starb, ging die Beziehung zu seiner ersten Frau Martha in die Brüche. Jahre später sucht er sie allerdings erneut auf. Denn nach dem Tod seiner zweiten Frau Briony, möchte Andrew seiner Exfrau sein zweites, mit Briony gezeugtes Kind überlassen.
Durch die Therapiesitzungen erfahren wir sukzessive, wie der Kognitionswissenschaftler Andrew seine Welt wahrnimmt, wie er seine Umgebung, seine Mitmenschen, den Geist und die Seele studiert, um sie zu verstehen. Um sie für ihn zugänglicher und verständlicher zu machen. In mehreren wirren Teilen erfährt der Leser des Reflexionsromans die Dramen des Protagonisten.
Freude und Hochgefühl berühren uns, wenn wir über die Beziehung zu seiner zweiten Frau Briony lesen. Eine Frau mit skurrilen und witzigen Wurzeln, die durch den Zusammenfall des World Trade Centers am 9. September 2001ein jähes Ende fand.
Schwermut überkommt uns, wenn wir durch abschweifende Gespräche mit seinem Therapeuten erfahren, dass Andrew auf der Suche nach dem Ursprung seiner Wesensart und seines Handelns ist. Nur, um mit Hilfe seiner Fähigkeiten in der Neurobiologie zu bestimmen, ob sein Schicksal bestimmten vererbbaren Verhaltensmustern entspricht, die möglicherweise zu relativieren sind.
E. L. Doctorow präsentiert einen Pechvogel par excellence, der letztendlich vor dem Versuch ein normales Leben zu erleben kapituliert und sich seiner Anomalien annimmt. Die Erkenntnis, dass Erinnerungen immer Teil seines Lebens sein werden, führt zur Entwicklung seines eigenen dunklen Humors, den er bis ins Bizarre anwachsen lässt.

„Im tiefsten Innern, im Grunde meiner Seele, falls es die gibt, bin ich letztendlich unberührt von dem, was ich getan habe. Ein leiser Hauch des Bedauerns über tote Babys, über tote Ehefrauen, über die Brände, die ich unabsichtlich legte, und solche Katastrophen können mich in meinen Träumen alle irgendwohin laufen lassen, wo ich kein Unheil anrichten kann, aber im wachen Leben lässt meine Schuld mich kalt.“

Für all diejenigen, die nach Erkenntnis und Sinn suchen, ist dieses Buch nur wenig geeignet.
All diejenigen, die auf ihrer temporären Realitätsflucht originelle Geschichten zu Rate ziehen möchten sei dieser Roman wärmstens empfohlen, denn die Wissenschaft ist wie ein sich stetig verbreiternder Scheinwerferstrahl, der immer mehr vom Universum erhellt. Doch während der Stahl breiter wird, nimmt auch die Dunkelheit an Umfang zu.

E. L. Doctorow
„In Andrews Kopf“
ISBN: 9783462048124