Lesebericht zu „Dope“ von Sara Gran

Sara Gran, Dope, Drogen, Buchblog Oliver SteinhäuserPausenlos ergibt sich die Diskussion zum Thema Chancengleichheit und Fairness. Doch bereits die Umsetzung sozialer und integrativer Konzepte bedeuten oft unüberwindbare Schranken und Hemmschwellen für jeden einzelnen von uns. „Dope“ schildert, was ein Leben als Junkie im New York der 1950er Jahre bedeutet, welchen Sümpfen labile Menschen, die Zuflucht im Drogenrausch suchen, ausgesetzt sind. Und was gilt, wenn der Ausstieg aus der Misere geschafft ist.

Die aus zerrütteten Verhältnissen stammende Josephine Flannigan kämpft mit einer Vergangenheit aus Drogensucht, falschen Freunden und einem Leben der Überforderung. Schon viel zu früh musste sie die Verantwortung für ihre Schwester übernehmen und alleine im New York der 1940er Jahre zurecht finden. Ihr erster Ehemann bringt sie, bereits im Alter von 17 Jahren, den Drogen nahe und zieht sie in einen Abgrund aus Abhängigkeiten, aus dem sie sich nach etlichen Jahren mit aller Kraft wieder befreit. Überraschend erhält Josephine den Auftrag, nach einem Mädchen zu suchen, die sich seit einiger Zeit in denselben Kreisen befindet, mit deren Gepflogenheiten Josephine selbst noch sehr vertraut ist. Sie begibt sich erneut in eine gefährliche Welt.

Auch wenn die Spannung in „Dope“ fehlt und der Leser gerade zu durch das Buch treibt, macht Sara Gran in ihrem Roman deutlich, welche Gefahren von missbräuchlichem Drogenkonsum ausgehen. Auch wenn wir im 21. Jahrhundert eine Vielzahl an Institutionen, wie beispielsweise Druckräume, errichtet haben, um Abhängigen einen besseren Lebensstandard zu bieten, ist das Kernproblem nach wie vor das Gleiche: Die Droge.
Drogenabhängige Menschen sind auf ihre Art Künstler und Experte: „Ein Anwalt, der die Drogengesetze […] im Wortlaut kannte; ein Psychologe, der wusste, wie man einen Dealer dazu überredet, Kredit zu gewähren.“ Es ist der Verlust, Situationen korrekt beurteilen zu können, die mit dem Start in eine Drogenkarriere einhergehen, der ein Leben in einer Parallelwelt früher oder später gefährlich werden lassen. Die Tatsache, dass Josephine einer außergewöhnlich durchdachten Intrige aufsitzt, verdeutlicht, dass Auffassungsgabe und Urteilsvermögen selbst als Ex-Konsument oft unwiderruflich geschädigt sind. Dass Josephines letztes Abenteuer von einer ihr nahestehenden Person geplant wurde zeigt darüber hinaus, dass selbst vermeintliche „Freunde“ und „Familie“ im Drogenmilieu kein Garant für Verlass und Vertrauen sind.

Sara Gran
Dope
ISBN: 978-3-426-30445-7

Lesebericht zu „Das Büro der einsamen Toten“ von Britta Bolt

Rezension Oliver Steinhäuser, Amsterdam, Büro der einsamen Toten, GrachtenAmsterdam, die Stadt der Kuriositäten wird Schauplatz einer leger lässigen Geschichte. Wie kann es da anders sein, als dass der strafversetzte Pieter Posthumus im Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen arbeitet und mit seiner euphorischen Genauigkeit jedes Detail der unbekannt verstorbenen Menschen unter die Lupe nimmt?

Eines Morgens wird ein Mann, gekleidet mit einer traditionellen Djellaba, in einer Gracht aufgefunden. Ertrunken. Die Identität des Toten ist zunächst unbekannt und die Polizei schließt Fremdverschulden aus. Daher landet der Fall im Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen, wo Pieter Posthumus sich diesem annimmt. Als er sich gemeinsam mit seinem Kollegen in der Wohnung des Toten umsieht, um Hinweise auf dessen Identität zu finden sowie eine Bestandaufnahme seines Nachlasses zu ermitteln, wird er von einem Stromschlag aus einem Teaser außer Gefecht gesetzt. Jeder andere würde sich davon einschüchtern lassen, oder zumindest vorsichtiger vorgehen. Nicht jedoch PP – wie er von seinen Freunden genannt wird. Seine Neugier wird von dieser Tat geradezu beflügelt und sein detektivischer Trieb geweckt.
Während Pieter Posthumus seinen Untersuchungen nachgeht, ermittelt parallel der niederländische Staatsschutz, um die unter Terrorverdacht stehende „Amsterdamer Zelle“ dingfest zu machen. Dabei wechselt sich die Betrachtung der beiden Erzählstränge ab, sodass der Leser die Zusammenhänge kennt, die Posthumus verborgen bleiben.

Man könnte meinen, PP sei ein kleinlicher Mensch, der seinen Mitmenschen die Arbeit erschwert, da er immer mehr wissen möchte, als es für den jeweiligen „Fall“ notwendig wäre. Er ist ein echter Amsterdamer, denn das ist es, was den Charme dieser Stadt und ihrer Menschen ausmacht. Sie sind keinesfalls kleinlich, sondern eher sehr detailverliebt. Sie interessieren sich für ihre Umgebung nicht nur oberflächlich. Sie sind wirklich an individuellen Geschichten und Bekanntschaften interessiert, denn im Gegensatz zu unserer deutschen Stressmentalität, nimmt man sich in Amsterdam Zeit für Fremde. „Amsterdam, dieses merkwürdige Spinnennetz von einer Stadt, hatte die Eigenschaft, seine Form zu wechseln, je nach Standort – wie ein Kaleidoskop, dessen Muster sich durch leichtes Schütteln veränderte“ (S.45). Hier ist man aufgeschlossen und unbekümmert. Und Zeit hat man in der Regel auch fast immer. Denn man nimmt sie sich!

„Das Büro der einsamen Toten“ ist trotz der Verarbeitung terroristischer Aspekte ein wunderbar leichter Roman, der es schafft, den Rezipienten in die merkwürdige Welt des Pieter Posthumus zu entführen. Eine Welt, in der zwischen Terrorismus, Unheil, Zeitmangel und Erfolgsdruck eben doch noch Zeit bleibt, sich um Menschen zu kümmern, deren Schicksal es ist, von der Gesellschaft völlig ungeachtet gewesen zu sein. Für PP ist sein Job eher eine Mission, bei der es irrelevant ist, ob er eine Beerdigung ohne Publikum organisiert, weil es keinerlei Verwandte gibt, oder ob er für ausgekundschaftete Hinterbliebene Seelsorge betreibt.Stadtplan Amsterdam2Das Vor- und Nachsatzpapier bilden jeweils den Stadtplan des Amsterdamer Zentrums ab. Dies ist besonders spannend, da der Leser die Wege der Protagonisten verfolgen kann und das Bild der Stadt Amsterdam sich ihm anschaulich einprägt.

Britta Bold
Das Büro der einsamen Toten
ISBN: 978-3-455-40528-6

Lesebericht zu „Janusmond“ von Mia Winter

Mia Winter, Janusmond, Zwillinge, Oliver Steinhäuser, BuchblogEinzigartige Verbindungen sagt man ihnen nach. Dass sie einander oft näher stehen, als es ihnen selbst und außenstehenden bewusst ist. Familiäre Nähe und Vertrautheit in der eigenen Verwandtschaft ist oft ein besonderes Gut und hilft bei der Identifikation seiner selbst. Doch wie weit würdest du gehen, um deiner Schwester zu zeigen, wie stark du sie liebst? Und wie bringst du es ihr bei, dass du mehr für sie empfindest, als es je ein anderer Mann in ihrem Leben tun wird. Wen wird es zerstören, wenn du dich deinen Fanatismus zu ihr gegenüberstellst? Sie, oder dich?

Klappentext:
Die französische Stadt Louisson leidet unter der Hexenhitze, als der Deutsche Leon Bernberg dort auftaucht, um nach seiner Zwillingsschwester Lune zu suchen. Diese hat vor zehn Jahren hier gelebt – und verschwand damals spurlos. Leon will sie nun offiziell für tot erklären lassen und bittet den Polizisten Christian Mirambeau um Hilfe. Doch durch Leons Erzählungen gerät auch Christian in den Bann der verschwundenen Fremden. Er beginnt Nachforschungen in dem Fall anzustellen – nicht ahnend, dass er damit sein eigenes Glück bereits verspielt hat …

Mia Winter teilt ihr Buch „Janusmond“ in zwei Erzählstränge. Leons Suche nach seiner Schwester beschreibt die aktuellen Vorkommnisse. Der zweite Handlungsstrang besteht aus einer Briefsammlung, die Lune ihrem Bruder aus Louisson geschrieben hat, bis zu dem Tag als sie verschwand. In ihren Briefen erzählt Lune von ihrem Leben in der Stadt, weit weg von ihrem zu Hause. Fernab der Familie, die in ihr das personifizierte Böse sieht. Sie trägt eine ausgeprägte dunkle Seite in sich, der auch all jene verfallen, die mit ihr im engeren Kontakt stehen, denn ihr Spiel mit Reizen und Macht, treibt andere zu dunklen Versuchungen an.
Der Leser wird in eine finstere Welt aus Lüge, Verzweiflung, Intrige und Sehnsucht gezogen, die auch in ihm die Frage nach seiner zweiten Seite aufwirft.
Zu Beginn des Buches geht man davon aus, dass es Leons Geschichte ist, der man Glauben schenken kann. Doch zunehmend verstrickt auch er sich in perfide Handlungen und Gedanken, sodass im Verlauf des Buches berechtigte Zweifel an der Echtheit seiner Geschichte entstehen.

Eine düstere Aura umgibt die gesamte Geschichte, die es dem Rezipient ermöglicht, etwas über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele zu erfahren und in fremde und skurrile Welten Eintritt zu erhalten.
Ein schwarzer Buchschnitt unterstreicht in „Janusmond“ die Story. Die äußere Wirkung des Buches bildet die Brücke zwischen Fantasie und der visuellen und haptischen Welt.

Mia Winter
Janusmond
ISBN 978-3-8025-9790-9

Lesebericht zu „Der Nibelungen Untergang“ von Heinrich Steinfest

Oliver Steinhäuser, Nibelungen Untergang, Siegfried der Drachentöter, Kriemhild, NibelungenschatzReclam? Das ist doch der Verlag mit den kleinen gelben Büchern und den dazugehörigen Erläuterungen, die jeder schmerzlich aus dem Deutschunterricht kennt? Dabei entstehen im Verlag wunderbare Bücher, deren Gestaltung bei genauerer Betrachtung wahrlich kunstvoll ist.

„Der Nibelungen Untergang“ ist eines dieser Werke. Grobe Zeichnungen von Robert de Rijn – über die Doppelseiten des Buches gestaltet –untermauern die Geschichte der Nibelungen auf eindrucksvolle Weise. Die expressive Strichführung der Zeichnungen lenkt den Blick des Rezipienten auf die Kernaussage jeder gestalteten Doppelseite und unterstreicht eindrucksvoll den rauen und rücksichtslosen Umgang in Zeiten, in denen Muskelkraft und Brutalität über den Ausgang eines Konfliktes entschieden haben.

Heinrich Steinfest – bekannt für seine Kriminalromane – erzählt in „Der Nibelungen Untergang“ das Nibelungenlied nach. Dabei bezieht er immer wieder Stellung, beschreibt seine Zweifel an der überlieferten Geschichte, belegt jedoch auch Dinge, die sich in der Art und Weise, in der sie erzählt wurden zugetragen haben können.
Durch das Einbeziehen heutiger Kommunikationstechnik und Persönlichkeiten aus der Gegenwart entsteht anfangs eine merkwürdige Mischung aus Sage und Komödie. „Und jeder kann sehen, wie Kriemhild ihrerseits verzaubert ist […]. Sie ist schließlich kein Backfisch oder so.“ (S.20) Es ist anfangs sehr gewöhnungsbedürftig ein Heldenepos mit solch grotesken Vergleichen und Kommentaren serviert zu bekommen. Wenn Steinfest sich über surreale Konstellationen von Kriegsheeren mokiert und damit die Helden der Sage bloßstellt, verlangt dies vom Leser eine gewisse Toleranz. Er erzählt die Geschichte zügig und in einem unverblümten Alltagston, der gelegentlich ins vulgäre abrutscht.
Doch es lohnt sich, das Buch weiterzulesen, über die anfängliche Verwirrtheit hinwegzusehen und das Werk als eine Übertragung der Sage auf unsere moderne Welt zu verstehen. Dabei spielen die uns bekannten Persönlichkeiten wie beispielweise Michael Jackson und Elvis Presley – die Steinfest explizit nennt um Siegfried zu veranschaulichen – eine genauso große Rolle wie der FC Bayern München, der ebenso Gegenstand seines Vergleiches wird.

Das negative Echo, das dieses Buch hervorgerufen hat, kann ich nicht bestätigen, denn es bereitete mir eine Freude dieses Buch zu lesen und die Zeichnungen, die einer Graphic Novel gleichen, anzusehen. „Der Nibelungen Untergang“ ist eines der wenigen Bücher, das in der U-Bahn neugierige Blicke auf sich gezogen hat und für Gesprächsstoff sorgte.
Auch derjenige, der sich nicht für Sagen interessiert, hat schon von Siegfried dem Drachentöter und dem im Rhein versenkten Nibelungenschatz gehört. Aus genau diesen vagen Skizzen zeichnet Heinrich Steinfest ein Gesamtbild und setzt dies verständlich um, selbst auf die Gefahr hin, einige Exkurse aus der Sprachfertigkeit der Nibelungen heraus, in unsere Gegenwart zu machen. Wenn der Leser weiß, worauf er sich einlässt und weder Probleme mit manch abstrusen Gedankengängen des Autors hat oder an der Kombination aus alter und moderner Sprache Gefallen findet, dann sei ihm dieses Buch wärmstens empfohlen.

Es ist und bleibt die faszinierende Geschichte der Nibelungen, die mit Siegfried einen Helden haben, der scheinbar über allem steht. Es ist die alte Geschichte von Macht, Anerkennung, Ruhm, Verlust und Gier, die seit jeher die Menschheit bestimmt. Erzählt in einem anachronistischen Gewand mit erfrischend modernen Pointen und Kommentaren.
„Der Nibelungen Untergang“ ist nach langer Zeit endlich wieder ein Buch, das ich nicht einfach weglege und abschließe. Hier entsteht Diskussionsbedarf über den Verlauf der Geschichte, darüber wer mit wem in Verbindung steht und warum manch ein König seinen über allen Zweifel hinweg loyalen Freund verrät und damit dessen Tod mitverschuldet. Und vor allem: Wo genau mag wohl der Schatz der Nibelungen liegen? Und woraus besteht der Schatz? Gold und materieller Reichtum, oder ist er möglicherweise nur Sinnbild für Wissen und Reichtum durch Erkenntnis?

Heinrich Steinfest                                      Hier geht es zur Leseprobe
Der Nibelungen Untergang
Geb. mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-15-010949-6

Lesebericht zu „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ von David Whitehouse

Buch, Reise, Bibliothek, Blog„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ ist ein Feuerwerk der Gefühle, die durch die Kuriosität seiner Protagonisten zu einer liebenswerten Lektüre wird, die man gar nicht weglegen möchte. Die Beziehung des Lesers zu Bobby Nusku entwickelt sich dabei zu einer geradezu brüderlichen Verbundenheit, von der man sich nur schweren Herzens nach 314 Seiten trennen kann.


Als ich vor zwei Wochen im Büro saß, hatte ich gerade einen Kriminalroman gelesen, in dem der Täter eine Bäckereiverkäuferin ausspäht, um deren zeitlichen Tagesablauf genau zu dokumentieren. Da er jeden Tag seine Backwaren bei dieser Frau kauft, kennt sie seine Vorlieben und übergibt ihm – noch bevor er bestellen kann – seine Ware. Meine Kollegin erzählt mir tags darauf leicht betrübt, dass die Verkäuferin der Bäckerei, in der sie jeden Morgen ihr Brötchen holt, nicht mehr da sei, und „Der Neue“ gar nicht weiß, was sie jeden Tag zum Frühstück essen möchte. Ich erzähle ihr daraufhin, dass im Leben immer genau das passiert, was in den Büchern steht, die man gerade liest. Das Phänomen nennt sich „Involvement“ – also die Einbezogenheit in das gerade Geschehende.


Lesen, Literatur, Blog, Oliver SteinhäuserUnd dann sitze ich auf dem Weg zum Büro im Zug und schlage eine neue Seite in „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ auf:
„ ‚In jedem Buch gibt es irgendeinen Hinweis auf dein eigenes Leben’, sagte sie. ‚Auf diese Weise sind die Geschichten alle miteinander verbunden. Du erweckst sie zum Leben, wenn du sie liest, und dann wirst du das, was darin passiert, auch erleben.’“
Meine anfängliche Skepsis an den Titel ist sofort verflogen, denn es schließt sich der Kreis. Die Geschichte, die in einem anderen Buch anfing, geht hier weiter, bestätigt meine Gedanken und zieht mich in ihren Bann!

Das Buch beginnt mit seinem Ende. Der Bücherbus steht an der Kante einer Klippe, umzingelt von Polizeiwagen. Inspektor Jimmy Samas ist besorgt, dass die Frau am Steuer die mobile Bibliothek, in der er außerdem zwei Kinder und ein entflohener Häftling vermutet, in den Abgrund steuern könnte. Um das entstandene Bild zu verstehen, entführt David Whitehouse uns in das Leben des jungen Bobby Nusku, einen Jungen, der unter dem Verlust seiner Mutter und seinem ausfallend und gleichgültigen Vater leidet und weiterhin schutzlos den Schikanen durch Mitschüler gegenüber steht. Als Bobby eines Tages auf die geistig behinderte Rose und deren Mutter Val Reed trifft, entsteht in ihm der Wunsch nach Zuwendung, Geborgenheit und Wertschätzung. Als plötzlich auch noch sein einziger Freund Sunny – nach mehrfachen schmerzvollen Versuchen sich in einen Cyborg umzuwandeln, um Bobby zu beschützen – wie vom Erdboden verschwindet, findet Bobby in Val und Rose eine Familie, wie er sie sich seither ersehnte.

Die Kernaussage des Werkes ist die Suche nach einer Familie, auch wenn diese nicht aus der biologischen Formation von „Vater, Mutter, Kind“ bestehen muss. Sie muss einfach nur die richtigen Gefühle in uns erwecken und dabei ergeben sich familienähnliche Konstrukte fernab derjenigen Zustände, in die manche Menschen hineingeboren wurden.

Während Val Reed Bobby immer wieder erzählt, dass kein Buch ein Anfang oder ein Ende habe, weil es nur eine kurze Sequenz einer Geschichte enthalte, die auch immer etwas von seinem Leser enthält, zeigt David Whitehouse jedem von uns, dass für jedes Problem, dem man gegenübersteht, in zahllosen letzten Buchkapiteln längst eine Lösung präsentiert wird. Gefühle wie Liebe, Verlust und der Tod, die über einen Menschen hereinbrechen können, sind in Büchern so oft überwunden worden, dass man ihnen nie wieder allein gegenüberstehen muss.

David Whitehouse
Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50148-3

Lesebericht zu „Das stille Land“ von Tom Drury

1331_TitelRuecken_Drury_StilleLand.inddVeröffentlichungstermin: HEUTE (31.01.2015)
Dieser Beitrag ist auch auf dem Klett-Cotta-Blog veröffentlicht!

Was macht das Leben mit dir, wenn du es einfach geschehen lässt? Mit welchen Kuriositäten wartet das Dasein in dieser Welt auf, wenn man gedankenverloren in jeden neuen Tag startet, frei von jeglichen Konventionen?

Pierre Hunter, der Protagonist in „Das stille Land“ lebt genau dieses Leben. Er hat den Hang dazu, sich kopfüber in Situationen zu stürzen, die er vorab nicht abzuschätzen kann. Nachdem Pierres Jugend durch den Tod seiner Eltern und das Ende seiner Beziehung zu Rebecca ein jähes Ende nimmt, arbeitet er als Barkeeper im noblen Jack of Diamonds. Genau wie die Spontanität seines Lebens, so unverblümt wird der Rezipient mit auf die Reise genommen, stets mit der Devise, dass keiner weiß, in welche Richtung sich das Leben entwickelt und wohin es den Protagonisten Pierre Hunter trägt. Pierre lebt in den Tag hinein. Unbeschwert. Als ihm die rästelhafte Stella das Leben rettet, nachdem er beim Schlittschuhfahren im Eis eingebrochen ist, bekommt sein Lebensweg einen Knick. Stella hat ein leerstehendes Haus am See. Prompt verlieben die beiden sich ineinander. Pierres Ausflug nach Kalifornien zieht ihm den Zorn eines gefährlichen Mannes zu, der auf Rache sinnt und ihn verfolgt. Stella erwartet die beiden schon mit einem schaurigen Geheimnis.

Alle Ereignisse bauen auf einer These aus Pierres Collegezeit auf: „Jeder Erfolg schafft die Bedingungen für dessen eigenen Niedergang. Ein einfaches Beispiel wäre das Feuer, das verzehrt, wovon es sich ernährt, und dann erlischt.“ (S. 90)
Auf seinem Weg trifft er eine Reihe von Menschen, von denen einige die Chance bekommen, in seinem Leben mitzuspielen, mit ihm weiterzuziehen, um weitere lapidare Begegnungen zu machen. Alle tragen gleichermaßen dazu bei, dass Pierres Leben temporär die Laufbahnen eines geordneten Lebens verlässt, um ihn im Anschluss mit Eifer auf die Bühne eines der aufregendsten Theaterstücke schleudert: Das Leben.

Zwischen allem Unerwartetem ist „Das stille Land“ eine Aufforderung an jeden einzelnen von uns: „Dass unser Planet und dieses Leben, das jedem von uns geschenkt wurde, Möglichkeiten bieten, die wir nicht begreifen. Daher verspielen wir sie Tag für Tag. Ich vermute, er hatte diese Einsicht ganz allein gefunden und wollte sie mit jemandem teilen.“ (S. 208)
Und am Ende bleibt insgeheim der Wunsch eines jeden, sich einfach einmal treiben zu lassen. Das Leben geschehen lassen und dessen Einmaligkeit zu genießen.

Das stille Land_Foto Oliver SteinhäuserSchon wache ich auf. Verkatert. Verschlafen. Ich kann mich an nichts mehr erinnern und finde dieses Bild auf meiner Kamera:

Welch genialer Streich des Lebens!
Das stille Land – außer Rand und Band.

Tom Drury
Das stille Land
Klett-Cotta
1. Aufl. 2015, 216 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98022-6

Lesebericht zu „Der Circle“ von Dave Eggers

Der Circle_Dave Eggers_KiWiWie viel technologischen Fortschritt verträgt die Menschheit? Ab wann verdrängt die Gier nach Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken ein authentisches und natürliches Miteinander?

Themenschwerpunkt in Dave Eggers „Der Circle“ ist die totale Vernetzung des Lebens mit sozialen Diensten, Arbeitgebern und staatlichen Institutionen. Durch den starken Bekanntheitsgrad des Internetunternehmens „Der Circle“ entsteht in der Bevölkerung ein großes Interesse an den Tätigkeiten der Firma und dessen Projekten. Ein intrinsisches Verlangen nach völliger Transparenz durchbricht schlagartig die unternehmensinternen Interessen und breitet sich in einem Großteil der Gesellschaft aus, die fortan alles über jeden wissen möchte und keine Mühe scheut auch den entlegensten Winkel der Erde mit Kameras auszustatten.

Während sich Mae Holland, die 24-jährige Protagonistin, stetig den digitalen Konventionen des Circles angleicht, verliert sie zunehmend die analoge Welt aus den Augen. Menschen die ihr immer wichtig waren, die sie liebte, sind plötzlich eine Minderheit. Denn sie wollen nicht gläsern sein, nicht alle Gefühle, Situationen und Meinungen mit der Öffentlichkeit teilen. Doch für Mae zählen nur noch Parolen wie: Geheimnisse sind Lüge – Teilen ist Heilen – Privatshäre ist Diebstahl. Ihr entgleiten zwischenmenschliche Fähigkeiten, wie das Zuhören oder eine Unterhaltung zu führen, weil sie einer permanenten Reizüberflutung durch mobile Medien gegenüber steht. Sie wird sozial völlig autistisch.

Während die Transparenz der Menschheit dafür sorgen soll, alles Menschliche zu verstehen und keinen Raum für Fehlinterpretationen zuzulassen, geschieht doch letzten Endes genau das. Kein überwachter Mensch verhält sich so, wie er es in Freiheit tun würde. Ständig muss man auf sein eigenes Tun achten, sich stets verhaltensoptimiert präsentieren, um dem „Publikum“ – den Viewern – zu gefallen und um die meisten „Smiles“ zu erhalten.

Dave Eggers Ausblick auf die mögliche Zukunft ist weitaus mehr, als Fiktion. Soziale Netzwerke sind bereits jetzt ein Werkzeug zur optimierten Präsentation seines Selbst. „Der Circle“ ist ein Spiegel, der jeden von uns auffordert, seine Motive und Aktivitäten innerhalb solcher Parallelwelten zu reflektieren. Das Werk zeigt auch sehr imposant, welche Divergenzen sich bereits jetzt zwischen einer einzelnen Generation durch rasante technische Neu- und Weiterentwicklungen herauskristallisieren.

image_manager__av_image_full_circle_screenUnd während ich weitere Einladungen zu „Gefällt-mir-Seiten“ bekomme und sensationsgierige selbstschönende Posts aufploppen, hoffe ich, dass uns vor dem vollendeten geistigen Verfall noch eine lange schöne Zeit bevorsteht.

Hier noch eine schöne Website des Verlags zum Buch!

Dave Eggers
Der Circle
ISBN: 978-3-462-04675-5
560 Seiten, gebunden, mit Zeichenband